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Archiv-Artikel

LESUNG Kreuzberger Szenen, 6. Auflage

Vor dreißig Jahren hatte die RAF im Graefekiez, den damals noch niemand so nannte, ein letztes Refugium. Damals gab es noch keinen Bioladen, keinen Weinladen, keine als Liegewiese umfunktionierte Admiralbrücke, auf der Amateure auf Bongos trommeln, auf Gitarren schrammeln, Harfen zupfen oder andere Instrumente quälen, es wallfahrteten noch keine Touristen aus aller Welt durch die Straßen, es bildeten sich keine Kindertrauben vor dem Eiscafé, es gab keinen von Studenten und ihren Eltern belagerten Italiener, bekannt als Weitwurfpizzeria, weil es schnell gehen muss, nur einen unechten mit mindestens zehn Zentimeter dickem Pizzateig, und statt Bars und Straßencafés gab es nur eine übel beleumundete Berliner Eckkneipe, die Standesamt hieß. Außerdem ein paar Antiquitätenläden mit harten Jungs, die davor herumlungerten und harte Sachen tranken. Einer von ihnen musste sogar mal von einem Spezialkommando mit schusssicheren Westen abgeholt werden, weil er sich in seiner Wohnung verschanzt hatte und mit seiner Knarre herumballerte. Ich beobachtete den Einsatz und zischte „Scheißbullen“ bzw. „Bullenschweine“. In Zeiten der Hausbesetzerbewegung Anfang der achtziger Jahre machte man das so. Das gehörte in der Hausbesetzerbewegung zur Etikette. Meine Freundin zerrte mich weg, bevor eine schusssichere Weste schlechte Laune kriegte. Erst Jahre später wurde der Mann mit der Knarre wieder gesichtet, mit ein paar Tattoos mehr. Vor Kurzem treffe ich sie wieder, die RAF. Vor Getränke Hoffmann lungern ein paar Jungs von der Rest-Alkohol-Fraktion herum. Ein Dicker, der eine frappierende Ähnlichkeit mit John Goodman aus „Barton Fink“ von den Coen-Brüdern aufweist, drängt mich in eine Ecke. Ich bin überrascht, denn ich kenne ihn nicht, also John Goodman schon, jedenfalls vom Sehen, aber den Dicken kenne ich nicht. Er sagt: „Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol.“ Dann lacht er ein irres Lachen, kippt einen Jägermeister, schwingt sich auf ein Mofa, das unter seinem breiten Arsch kaum mehr zu sehen ist, und knattert davon. Ich hieve zwei Kasten Rhön-Sprudel in den Kofferraum. „Ah, Aqua-holiker!“, macht sich eine Stimme aus der RAF lustig, die sich vor dem Laden zusammengerottet hat. „Ich brauch das zum Brandlöschen“, sage ich etwas matt. „Aha! Soso! Ach ja? Echt ma? Ähem!“, raunt es aus der RAF. Sogar Gekicher vernehme ich. Und dann klirren wieder die Flaschen.

KLAUS BITTERMANN

■ Verleger und taz-Autor Klaus Bittermann liest aus „Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol – Kreuzberger Szenen“, dessen 6. Auflage gerade bei Suhrkamp erschienen ist: Buchhandlung Moritzplatz, Prinzenstr. 85, Donnerstag, 20 Uhr