Kreuzberger Markthalle wiederbelebt: Das Hallen-Experiment
An der Kreuzberger Eisenbahnstraße wird seit drei Wochen wieder gehandelt. Regionales hat hier seinen Preis, Günstigeres steuern die Discounter bei.
Der Geruch passt nicht. Nicht zu dem sonnigen Herbsttag, nicht zum Schoko-Ingwer-Kuchen der Tortenmanufaktur, nicht zu den extravagant gekleideten Müttern mit ihren Kinderwägen. Es riecht ein bisschen streng in der Markthalle, wie Schweißfüße. Der Geruch verstärkt sich in der hinteren Standreihe, bis die Quelle gefunden ist: "Raclette" steht auf einem großen, über den Verkaufstisch gespannten Banner. Dahinter bereiten zwei emsig werkelnde Köche das Schweizer Nationalgericht zu. "Eine Lüftung, das wäre noch eine Investition", sagt Rosa Ortega Sánchez am Nachbarstand und seufzt. Sie verkauft mit einer Geschäftspartnerin spanische Spezialitäten, Tortilla, Kichererbseneintopf, Tapas. Gern würde sie auch Tintenfischbaguette anbieten. Aber nicht ohne Lüftung. "Es ist alles noch ausbaufähig hier", sagt Ortega Sánchez.
Zum dritten Mal erprobt das denkmalgeschützte Gebäude an der Kreuzberger Eisenbahnstraße, das zu sein, was es einmal war: eine Markthalle mit Waren aus der Nähe und für die Nachbarschaft. Was nach einem einfachen und kurzen Weg klingt, hat in Wirklichkeit eine lange und steinige Geschichte: Eigentlich wollten Investoren die Halle profitabel vermarkten. Eine Anwohnerinitiative schnappte sie ihnen vor der Nase weg. Eine Projektgruppe gewann die darauffolgende Ausschreibung und feilte anderthalb Jahre am Konzept einer "offenen Markthalle". Nun hat die "Markthalle IX" freitags und samstags geöffnet. Die Öffnungszeiten sollen genauso erweitert werden wie der Markt: Noch hat das Ganze experimentellen Charakter. "Markthalle IX" heißt das Projekt nach dem historischen Namen des Gebäudes.
Zwischen Aldi und Kik
Als "Eisenbahnhalle" kennen sie die Kreuzberger: die historische Markthalle in der Eisenbahnstraße. Eröffnet wurde sie im Jahr 1891. Heute ist sie eine von vier (der einst 14) historischen Berliner Markthallen, die noch in Betrieb sind.
In den vergangenen Jahrzehnten verlor die Markthalle immer mehr an Attraktivität. Standbetreiber gaben auf, Billigketten bezogen Teilflächen des rund 4.000 Quadratmeter großen Gebäudes. Über ein Zukunftskonzept für die Halle, die der landeseigenen Berliner Großmarkt GmbH gehörte, wurde jahrelang gestritten, Anfang 2010 verkaufte der Liegenschaftsfonds die Halle für 1,1 Millionen Euro an die Anwohnerinitiative. Ein Mitbewerber, der einen "Orient-Basar" plante, kam nicht zum Zug.
Weil die Discounter in der Halle zum Teil noch über mehrjährige Mietverträge verfügen, ist ein schneller Umbau nicht möglich. Die Verwandlung in einen kleinteiligen Kiezmarkt soll sich deshalb in den kommenden fünf Jahren schrittweise vollziehen. Eröffnet wurde der erste Abschnitt der "Markthalle Neun" zum 120. Geburtstag der Halle am 1. Oktober.
Zwischen Filialen von Aldi, Schlecker und Kik formen sich ein paar Stände zögerlich zu Reihen, wenige Händler stehen verstreut darum herum. Unter den wuchtigen Backsteinwänden und Eisenstreben wirkt die Ansammlung etwas verloren.
Zwei Bauarbeiter haben sich an den seitlich aufgestellen Biertischen niedergelassen und essen dick belegte Wurstbrötchen. Mit vollem Mund erzählen sie sich lautstark etwas, es ist schwer zu verstehen, wohl eine osteuropäische Sprache. Die zwei wirken wie Exoten in einer sonst homogenen Masse aus elegant gekleideten Müttern mit ihrem ebenso schick angezogenen Nachwuchs in modernen Kinderwägen. Die Frauen stehen um den Steckrübeneintopf an und lassen ihre Kinder mit den Naturbauklötzen auf dem Spielteppich herumturnen.
Der Biowinzer hat Chardonnay im Angebot, die Flasche für 8,50 Euro, zwei Ökobäckereien verkaufen Brot, das um die 5 Euro das Kilo kostet. Die Stückchen in den Probierschalen sind kostenlos. Zwei Studentinnen stehen davor und naschen. "Es sind echt gute Sachen hier auf dem Markt", sagt Merle Sudbrock, die in Neukölln wohnt und aus Neugier gekommen ist. "Leider kann ich sie mir nicht leisten." Aber Schauen kann auch Spaß machen: Sudbrock und ihre Freundin sind nicht die Einzigen, die den Markt bloß durchstreifen. Wo sieht man schon einmal, wie traditionelle japanische Waffeln hergestellt werden? Kann von ökologischen Schokokeksen naschen und den aufwändig mit Pflanzen dekorierten Stand der Kollektivzüchter von den Prinzessinnengärten bewundern?
Rosa Ortega Sánchez, die Tortillabäckerin, hat den Käse wieder aus der Vitrine genommen. "Spanischer Käse hat einen relativ hohen Einkaufspreis, der kam nicht gut an", sagt sie. Aber die Hackfleischbällchen gehen prima, von denen hat sie zum dritten Marktwochenende mehr vorbereitet. Auch die Tortilla ist beliebt und mit 2,50 Euro absolut preiswert im Hallenvergleich.
"Es läuft an hier, es kommen mehr und mehr Familien", sagt Ortega Sánchez. Für die gelernte Journalistin bietet das Konzept die Möglichkeit, ein neues Standbein zu testen. Sie habe mehrere Jahre in Spanien gelebt und die Wochenmärkte dort geliebt, erzählt sie. "Das war immer mein Traum." Die Investitionskosten für den Stand in der Eisenbahnmarkthalle bewegen sich im vierstelligen Bereich - "überschaubar", findet sie. Wenn erst die Drospa-Filiale weg sei und Platz für Stände mache, festige das sicher auch den Markt.
Bio und sozial? Schwierig
Tatsächlich geht der Wochenmarktcharakter zwischen hochpreisiger Feinkost unter. Die Teltower Rübchen, Biotomaten und Kürbisse pressen sich verschämt in eine Ecke, ein zweiter Obst- und Gemüsestand liegt am Hallenausgang, mehr ist nicht. Zwar gibt es noch einen Fleisch- und einen Fischstand sowie zwei Biobäckereien, aber gerade letztere wenden sich an ein zahlungskräftiges Publikum. Sozial und bio geht eben schwer zusammen - selten wird das so anschaulich wie in dieser ersten Anordnung der "Markthalle IX". Nikolaus Driessen von der Projektgruppe verweist darauf, dass das Konzept noch in Entwicklung sei. Und dass es absurd sei, mit Aldi und herkömmlichen Bäckern preislich konkurrieren zu wollen. Sowohl der Discounter als auch zwei Filialen von Industriebäckern sind seit Jahren in der Halle. "Wenn es die nicht gäbe, hätten wir uns etwas überlegt für dieses preisliche Segment", sagt Driessen. Wenn Aldi weggehe, müsse man neu nachdenken.
Die Kreuzbergerin Elke Braun erinnert sich an den alten Markt in der Halle. "Da gab es mehr Obst und Gemüse, das würde ich mir wieder wünschen", sagt sie. Braun will nichts kaufen, sie schaut nur. "Langfristig wäre es auch gut, wenn es mehr niedrigschwellige Angebote gäbe", sagt sie. Sie denkt nach. "Obwohl", fügt sie hinzu, "es gibt ja noch Aldi. Da kann man auch gut und billig Obst und Gemüse kaufen."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen