Kraftwerk-Studie: "Eine grandiose Täuschung"
Epidemiologe Eberhard Greiser erhebt schwere Vorwürfe gegen die Leiterin der Studie zum Thema Leukämie im Umkreis von AKWs: Sie soll die Ergebnisse bei der Veröffentlichung verharmlost haben.
taz: Herr Greiser, haben Kinder, die in der Nähe von Atomkraftwerken aufwachsen, ein erhöhtes Krebsrisiko?
"Wir finden in Deutschland einen Zusammenhang zwischen der Nähe der Wohnung zu einem Kernkraftwerk und der Häufigkeit, mit der Kinder vor ihrem fünften Geburtstag an Krebs erkranken", sagt Peter Kaatsch, Chef des deutschen Kinderkrebsregisters. Zusammen mit seiner Mainzer Kollegin Prof. Maria Blettner hat er seit 2003 die bisher größte Studie zu dem Thema geleitet: Alle an Krebs erkrankten Kinder unter 5 Jahren, die im Umkreis von 50 Kilometern eines AKWs lebten, wurden einbezogen. Am 10. Dezember wurden die Ergebnisse veröffentlicht.
Aber was nicht sein darf, ist angeblich auch nicht so. Kaatsch sei selbst von dem Ergebnis "verblüfft" gewesen, berichtet die Zeit und stellt klar: "Mit Strahlung lässt sich das Krebsrisiko nicht erklären." Auch viele andere Medien vertreten diese Position. Die FAZ schreibt von "rätselhafte Zusammenhängen". Die Welt ist der Auffassung, nur "notorische Atomkraftgegner" könnten einen Zusammenhang von Strahlung durch laufende AKWs und Krebserkrankungen entdecken. Auch das Bundesamt für Strahlenschutz stünde wegen dieser Interpretation "im Zwielicht".
EBERHARD GREISER ist Professor für Epidemiologie und medizinische Statistik an der Universität Bremen und Geschäftsführer einer Beratungsfirma für epidemiologische und sozialmedizinische Studien. Er war bereits für mehrere epidemiologische Studien zu Ursachen für Leukämie und Lymphdrüsenkrebs verantwortlich. Auch das Konzept für die Untersuchung, die das Mainzer Institut für Epidemologie (Imbei) im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) durchgeführt hat, stammt von ihm. Zugleich gehörte er dem externen Expertengremium für die Studie an.
Eberhard Greiser: Das ist eindeutig so. Die neue Studie hat die Daten von 22 deutschen Kernkraftwerken an 16 Standorten ausgewertet.
Aber ein erhöhtes Krebsrisiko besteht nur im 5-Kilometer-Umkreis, sagt die Leiterin der Studie, Prof. Maria Blettner.
Die Aussage ist falsch. Die Auswertungen in ihrem eigenen Abschlussbericht zeigen, dass das Risiko bis zu einer Entfernung von 50 Kilometern höher ist als weiter entfernt und dass das Erkrankungsrisiko mit zunehmender Entfernung von Atomkraftwerken kontinuierlich abnimmt.
Sie behaupten, dass Frau Prof. Blettner die Studie ihres Institutes falsch darstellt?
In der Studie sind die Daten korrekt ausgewertet. Aber das, was Frau Prof. Blettner als Ergebnis in die Öffentlichkeit kommuniziert, ist schlicht falsch. Das kann man auch nicht als Streit unter Experten abtun. Das ist eine so grandiose Täuschung der Öffentlichkeit, dass man sich fragen muss, ob hier nicht die Grenze zwischen Täuschung und Fälschung überschritten wird.
Außerhalb des 5-Kilometer-Kreises ist die Erhöhung des Risikos aber sehr gering.
Das stimmt so nicht: Im 5-Kilometer-Kreis ist das Risiko um 60 bis 75 Prozent höher, in 5 bis 10 Kilometern Entfernung um 20 bis 40 Prozent erhöht, weiter entfernt sinkt das Risiko bis auf sehr kleine Werte. Wenn Sie die Zahl der Bewohner nehmen, gibt es in der 50-Kilometer-Zone allerdings deutlich mehr betroffene Kinder.
In der ersten Pressemitteilung des Mainzer Institutes für Epidemologie (Imbei) am vergangenen Montag stand aber: "Außerhalb der 5-Kilometer-Zone fanden sich keine erhöhten Erkrankungsrisiken."
Der Satz stand zunächst auf der Internetseite des Mainzer Instituts, ist nun aber gestrichen. Frau Prof. Blettner hat erklärt, dass nur 29 Fälle von Krebserkrankung bei Kindern innerhalb von 24 Jahren der Nähe zu den Kernkraftwerken zuzuschreiben sind. Wenn man korrekt rechnet und das Risiko außerhalb des 5-Kilometer-Radius einbezieht, findet man je nach Rechnungsmethode zwischen 121 und 275 Fälle. Beide Berechnungen finden sich in der Studie ihres Hauses. Prof. Blettner hat sich in ihrer Darstellung gegenüber der Öffentlichkeit also um einen Faktor fünf bis zehn verschätzt. Von allen Krebserkrankungen bei Kindern unter 5 Jahren, die im 50-Kilometer-Umkreis von Kernkraftwerken leben, sind 8 bis 18 Prozent auf das Wohnen in der Nähe des Atomkraftwerkes zurückzuführen. Die Studie gibt deutliche Hinweise, dass Kernkraftwerke im Normalbetrieb gesundheitlich nicht unbedenklich sind.
Wie deuten Sie das Vorgehen von Prof. Blettner?
Ich halte das bei einer Wissenschaftlerin für enorm kritisch, wenn sie die offenkundigen Ergebnisse ihrer eigenen Forschung in einer Weise manipuliert, dass ein Effekt fast bis zur Unkenntlichkeit verharmlost wird. Man fragt sich natürlich, warum eigentlich.
In der Öffentlichkeit spricht Frau Prof. Blettner von der Möglichkeit, dass es bisher noch unbekannte Faktoren gibt oder dass es sich doch um Zufall handelt.
Diese Erklärungsversuche sind abwegig. Ich vermute, dass Frau Prof. Blettner selbst von den Ergebnissen überrascht worden ist und deshalb nun davon abrückt. Diese Studie ist weltweit die größte Studie zu dem Thema. Das Expertengremium, das sie im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz begleitet hat und dem ich angehöre, hat keinen Zweifel daran, dass hier korrekt gearbeitet worden ist.
Die FAZ spricht von "rätselhaften Zusammenhängen".
Die Zusammenhänge sind für die Mitglieder des Expertengremiums des Bundesamtes für Strahlenschutz nicht rätselhaft, sondern sehr plausibel. Welcher Zufall sollte für einen so eindeutigen Abfall der Erkrankungshäufigkeit bei zunehmender Entfernung verantwortlich sein?
Was ist normalerweise das Verfahren bei der Veröffentlichung solcher Studien?
Das übliche Verfahren bei einer komplexen oder absehbar sensiblen Studie ist, dass zur Sicherung der Qualität ein Beirat eingerichtet wird. Der steht den Wissenschaftlern beiseite, die die Studie durchführen, macht am Ende seinen Bericht, der den Wissenschaftlern bescheinigt, dass die Studie ordentlich durchgeführt worden ist. Dann wird das Ganze den Auftraggebern vorgelegt, und schließlich wird das Ergebnis gemeinsam verkündet und öffentlich interpretiert. Frau Prof. Blettner hat sich im Laufe des vergangenen Jahres jedoch gegen eine externe Qualitätsprüfung durch Mitglieder des Expertengremiums gewehrt. Was hier passiert ist, habe ich in meinem ganzen beruflichen Leben noch nicht erlebt.
Hat der wissenschaftliche Beirat Frau Prof. Blettner erklärt, wieso er die Ergebnisse anders interpretiert?
Es geht hier überhaupt nicht um eine Interpretation von Ergebnissen, sondern vor allem darum, dass Ergebnisse, die sich eindeutig im Abschlussbericht der Studie finden, der Öffentlichkeit unterschlagen werden. Frau Prof. Blettner hat sich auch einer Diskussion nicht gestellt. Sie ist am 10. Dezember, als der Termin mit dem Expertengremium war, nicht erschienen.
Soll man Eltern kleiner Kinder, die im Umkreis von 50 Kilometern von Atomkraftwerke leben, raten, wegzuziehen?
Man kann ja nicht die Gegenden um alle deutschen Kernkraftwerke menschenleer machen. Gott sei Dank erkranken ja auch nur sehr wenige Kinder unter 5 Jahren an Leukämie oder an anderen Krebsarten. In ganz Deutschland bekamen im Untersuchungszeitraum von 24 Jahren mehr als 13.000 Kinder dieser Altersgruppe Krebs. Im Bereich unter 50 Kilometer um die 16 Standorte deutscher Kernkraftwerke erkrankten insgesamt 1.523 Kinder. Bei 121 bis 275 von ihnen ist der Krebs auf das Wohnen in der Nähe des Kernkraftwerkes zurückzuführen - das sind vermutlich zwischen 5 und 12 pro Jahr.
Umziehen oder nicht umziehen?
Ich würde mir einen Umzug genau überlegen. Die Emissionen der Kernkraftwerke sind ja nur ein Faktor von vielen, die zu Krebs im Kindesalter führen können. Und viele Faktoren können die Eltern auch ohne Umzug beeinflussen. Rauchen während der Schwangerschaft oder in der Umgebung von Kleinkindern ist deswegen gefährlicher, weil noch viel zu viele Mütter rauchen. Insektizide im Haushalt sind in Deutschland praktisch überall überflüssig, stellen aber für Leukämien und Lymphdrüsenkrebs einen starken Risikofaktor dar. Vergleichbares gilt für Holzschutzmittel. Einige Gruppen von sehr feinen Stäuben sind auch krebserregend, und elektromagnetische Felder, die von vielen Haushaltsgeräten ausgehen, sind ebenfalls Risikofaktoren.
Können die geringen Mengen an Isotopen aus einem AKW im Routinebetrieb Krebs erzeugen?
Der Grenzwert, von dem Frau Prof. Blettner ausgeht, leitet sich ab von Untersuchungen von Erwachsenen aus Hiroschima und Nagasaki. Da diese Langzeituntersuchungen erst in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts angefangen wurden, können wir daraus überhaupt nichts ableiten für das Krebsrisiko von Kleinkindern. Die waren nämlich damals bereits gestorben, wenn sie durch die Strahlung einen Krebs davongetragen hatten.
Wir wissen aber, dass der wachsende Organismus und noch viel mehr der nicht geborene sehr viel sensibler ist gegenüber Strahlungen als der erwachsene Körper. Die vom Bundesamt für Strahlenschutz eingesetzte Expertengruppe, die die Studie begleitet hat, ist daher zu dem Ergebnis gekommen, dass man keineswegs ausschließen kann, dass die statistisch signifikanten Effekte durch AKWs verursacht worden sind.
Wie sollen Eltern damit umgehen?
Eltern, deren Kinder Krebs bekommen haben, sollten überlegen, ob sie nicht die Betreiber haftbar machen. Die haben jahrzehntelang behauptet, es könne nichts passieren.
INTERVIEW: KLAUS WOLSCHNER
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