: Kräftige Zeitsynkopen
Eine Naturkatastrophe, ein Rollentausch, zwei Schicksale: „Sturmflut“ von Margriet de Moor
VON MAJA RETTIG
Die Niederländerin Margriet de Moor ist eine Schicksalsbeschwörerin. Oder dem Zufall verpflichtet, wie man es nimmt. Ihr neuer Roman „Sturmflut“ handelt von einem Rollentausch und wie er unglücklich auf eine Naturkatastrophe trifft. Armanda, 21, jüngere von zwei Schwestern, hat aus einer unbedeutenden Laune heraus die Idee, ihre Schwester Lidy solle statt ihrer zu einer Geburtstagsfeier auf die Nordseeinsel Schouwen fahren. Sie selbst würde Lidys zweijährige Tochter hüten und am Abend mit Lidys Mann Sjoerd zu einer Party gehen. Lidy willigt wenig euphorisch ein. Dann bricht die historische Sturmflut vom Januar 1953 über den Südwesten der Niederlande herein, bei der fast 2000 Menschen ertrinken.
Lidy wird seither vermisst, später für tot erklärt, um dem mutmaßlichen Witwer die Wiederheirat zu ermöglichen: mit Armanda. Die, bisher noch ohne eigene Biografie, übernimmt Mann und Kind der Schwester und ist einerseits im Glück: Einmal nämlich, noch vor Lidy, hatte auch sie diesen Mann geküsst, aber ein wenig zu spät begriffen, dass sie ihn auch gewollt hätte. Andererseits führt sie jetzt ein vielleicht fremdes Leben und gesteht, „dass ich manchmal alle möglichen persönlichen Erinnerungen […] wie eine Kontrastflüssigkeit, eine Meßlatte, neben diesem einen Wasserdrama in ich weiß nicht wie vielen Akten sehe.“
Das nun entspricht der Struktur des Romans. Lidys dreitägiges Wasserdrama dauert bis zum Schluss an und wechselt sich kapitelweise mit Armandas fortschreitendem Leben ab. Ein ungemein effektvoller Aufbau, der einen regelrechten Zeitschwindel erzeugt: Die Zeiträume zwischen den Armanda-Kapiteln werden immer größer und die Wirkung dieser Gegenüberstellung verändert sich: Zuerst erscheint es nur unbarmherzig und ungerecht, Armanda im Trockenen mit Lidys Mann, Lidy bis zum Hals im Wasser. Dann aber häufen sich auf Armandas Seite die Jahre, sie wird älter, sie wird alt. Hinter den Ausschnitten aus ihrem Leben bleiben ganze Entwicklungen ungenannt – irgendwann lässt Sjoerd sich scheiden, aber den betreffenden Schmerz hat man nicht mitbekommen. Stattdessen erschrickt man über das Vergehen eines Lebens und ist einerseits beruhigt, andererseits beunruhigt darüber, wie die Zeit alles relativiert.
Zum Schluss sind sie gleichauf, beide am Sterben, nur Jahrzehnte auseinander. Das wirft die großen Fragen auf: Was heißt überleben, was ist wirkliches Leben? Wenn in den Sturmkapiteln einige sich länger festhalten können als andere, sind sie dann fürs Erste davongekommen? Ist wirkliches Leben doch eher das kurze, unabgenutzte? Ist Armanda überhaupt jemals zu einem eigenen Leben gelangt? Wer kann letztlich wen beneiden– ist nicht auch Lidy eine Davongekommene?
Das hat Kraft. Auch wie das Fremde plötzlich zum Eigenen wird, ist stark geschildert. Der Rollentausch nämlich gelingt für Lidy, sie amüsiert sich auf dem Fest der ihr völlig unbekannten Menschen. Selbst als das Fremde ins Infernalische übergeht, ist es rückhaltlos die einzige Wirklichkeit: „Kein Gedanke an zu Hause. […] Sie hatte vergessen, was ein Haus ist, eine Ehe, eine Familie, das kann sehr schnell gehen.“ Und wie sie die Wucht der Katastrophe zeigt, vor allem, dass niemand die Gefahr ernst nimmt, als sie schon greifbar ist. Keiner rechnet damit, dass etwas so Banales wie das Wetter plötzlich Macht über das eigene Leben bekommen könnte. Überhaupt Margriet de Moors wiederkehrendes Thema: Kleine Zufälle können Menschen aus ihrem Leben rücken – dicht neben dem Leben, in dem man gelandet ist, befinden sich noch andere. All das ist gut gezeigt.
Die Position, von der aus erzählt wird, ist wieder die einer großen Distanz. Schicksal, Zufall, Macht heimlicher Wünsche? Die Erzählstimme jedenfalls besitzt die vogelperspektivische Draufsicht auf das Unvermeidliche. Unzählige Vorgriffe, Negationen und Konjunktive beschwören die Ruhe vor dem Sturm: Was geschehen sein wird, was nicht geschah, was geschehen wäre, wenn. Das sorgt für interessante Effekte, schürt Dramatik, manchmal zu viel Pathos. Es rückt den Erzähler in eine zwielichtige Position: Er sieht alles kommen und ändert es doch nicht. Seine Allwissenheit ist ein bisschen zu oft noch mit sentenziösen Kommentaren unterstrichen. Sprachlich gerät manches hausbacken („hatte viel Freude daran, den Haushalt picobello in Schuß zu halten“), platt oder kitschig: versuchte Kinderperspektive; versuchte Erotik. Ein leichter Drall ins Schmonzettenhafte ist leider vorhanden. Aber dahinter: viel erzählerische Kraft.
Margriet de Moor: „Sturmflut“. Aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen. Hanser Verlag, München 2006, 352 S., 21,50 Euro