■ Kosovo und die Folgen (9): Bodentruppen hätten die Vertreibung der Albaner verhindern können. Die Nato wollte das nicht riskieren: Schieß und vergiss!
Nach Angaben der Nato wurden während des Kosovo-Krieges insgesamt 23.000 Bomben und Ähnliches auf jugoslawisches Territorium abgeworfen – mit einer geschätzten Trefferquote von 99,6 Prozent. Aber als Miloševic' Truppen dann nach dem 11. Juni unter den Augen westlicher und russischer Soldaten aus dem Kosovo abzogen, führten sie hunderte von Panzern, Panzerfahrzeugen, Artilleriegeschossen, Lastwagen und Flugabwehrraketen mit. Sogar acht Mig-21-Kampfjets tauchten aus einem unterirdischen Flughafen bei Priština auf und flogen nach Serbien.
Die Armee Miloševic' entkam also quasi ungeschoren – trotz hoher Verluste und der Zerstörung von Militäreinrichtungen. Vom Standpunkt der konventionellen Kriegsführung aus betrachtet, erscheint diesse Ergebnis merkwürdig. Aber die Kriege Miloševic' sind – vom „drôle de guerre“ 1991 in Slowenien mal abgesehen – eben nicht konventionell. Wie Sadako Ogata, die Hohe UN-Kommissarin für Flüchtlinge einmal bemerkte, sind ethnische Säuberungen eben nicht etwa Beiwerk oder Folgen dieser Kriege; sie sind ihr eigentliches Ziel.
Die Nato-Strategie im Kosovo zeigt deutlich, dass das im Westen bis heute nicht verstanden worden ist. Dabei liegt auf der Hand, dass nicht etwa die Bombardierung der bosnischen Serben 1995 zum Dayton-Friedensvertrag führte, sondern der schnelle Aufmarsch und das bestimmte Auftreten der Schnellen Einsatzttruppe der Nato auf dem Schlachtfeld zusammen mit der erfolgreichen Offensive kroatischer und bosnischer Truppen im August und September.
Nun sind die USA und – in geringerem Maße – auch die anderen Nato-Staaten in einer gefährlichen ideologischen Stimmung, was derartige Bodenoperationen angeht. Offensichtlich will man sich nicht von der „Colin-Powell-Doktrin“ vom Krieg ohne eigene Opfer trennen. Das Konzept ist verführerisch: präziser Raketenbeschuss, Zielbombardierungen aus großer Höhe, elektronische Kriegführung, aalglatte, superschnelle Flugzeuge; die Vorbereitungen „unserer Jungs“, wie eine Fernsehserie, Nintendo-Spiele oder die Kosovo-Pressekonferenzen des Nato-Sprechers Jamie Shea.
Aber das Leben ist anders, wie wir auf dem Amselfeld sahen. Ja, die Nato-Luftangriffe haben einige jugoslawische Waffensysteme zerstört – aber weit weniger wichtige, als das Bündnis behauptet. Ja, die jugoslawische Luftwaffe ist schwer beschädigt. Aber das ist belanglos, weil Miloševic keine Luftwaffe braucht, um zu herrschen, und weil die jugoslawische Luftwaffe schon vor dem Kosovo-Krieg hoffnungslos veraltet war.
Belgrad hatte und hat keine Radarsysteme, keine sicheren Nachrichtenverbindungen und keine integrierten Luftkampfsysteme. Deshalb waren die jugoslawischen Soldaten leichte Opfer für die aus großer Höhe auf sie abgefeuerten Nato-Raketen – Motto: Schieß und vergiss. Miloševic wiederum braucht genau genommen weder Kampfpanzer noch gepanzerte Mannschaftswagen oder Artillerie, um sich in der Art von Kriegen, die er seit neun Jahren führt, durchzusetzen. Denn diese richten sich immer gegen un- oder schlecht bewaffnete Zivilisten. Seine Truppen wurden jedes Mal besiegt, sobald sie einem ebenbürtigen Gegner gegenüberstanden – wobei „ebenbürtig“ angesichts der fehlenden Motivation und selbstmörderisch dummen Strategie der serbischen Armeen auch lediglich „schöpferische Taktik“ oder Mut und Ausdauer heißen kann.
Statt diese Tatsachen zu berücksichtigen hielt die Nato an dem Irrglauben fest, ein Luftkrieg könne ihr politisches Ziel – den Schutz der Kosovo-Albaner – erreichen. Militärische Binsenwahrheiten wie die, dass es im Krieg die einzige Aufgabe der Luftwaffe ist, Überlegenheit in der Luft zu erreichen und so die eigenen Truppen auf dem Boden vor dem Feind zu schützen, wurden schlichtweg ignoriert. Und so wurde jugoslawische Armee in eine Lage versetzt in der sie alle in Kroatien und Bosnien gesammelten Lehrbuchtaktiken anwenden konnte.
Belgrads Armee operierte grundsätzlich getarnt, bewegte sich nur nachts in kleinen, über das Gelände zerstreuten Gruppen. Die Soldaten bauten Unmengen von Panzer-, Flugzeug- und sogar Brückenattrappen als Lockvögel für die Nato-Bomben und Raketen. Der Zielsuch-Radar wurde nie für länger als 15 – 30 Sekunden angeschaltet, die Sicht wurde mit Rauchschildern manipuliert, um mögliche Ziele für die Nato-Laser unsichtbar zu halten. Statt leistungsfähiger, aber leicht zu entdeckender Nachrichtensysteme wurden transportable Funkstationen und altmodische Feldtelefone eingesetzt. Maschinen, Kanonen und Raketensilos wurden mit nassen Tüchern gekühlt, um nicht von feindlichen Wärmedetektoren entdeckt zu werden. So konnten Miloševic' Streitkräfte in ständiger Bewegung bleiben.
Das heißt nicht etwa, dass die offizielle Nato-Angabe – Treffgenauigkeit: 99.6 Prozent – nicht stimmt; aber sie bezieht sich eben nur auf diejenigen Ziele, die die Raketen und Piloten des Bündnisses aus 5.000 Metern Höhe auch als solche ausmachen konnte. Von dieser Distanz aus sehen selbst die am weitesten entwickelten Aufklärungssystem nicht viel.
Die Kombination von hochauflösenden Bildschirmen und Hitzebildern kann jedes motorbetriebe Fahrzeug anzeigen – aber nicht, ob es sich dabei um einen Panzer, oder um eine Flüchtlingskolonne handelt. Auch das ist eine Lehre aus dem Kosovo-Krieg. Sicher können getarnte Kampfpanzer oder Raketenschächte nur von tieferen Höhen aus identifiziert werden, vorzugsweise durch den Piloten oder Bombenschützen selbst.
Das aber schließt Risiken ein, auf die sich die nur ihrem eigenen politischen Ehrgeiz verpflichtete Politiker und Generäle nicht einlassen wollen. Zudem ist klar, dass auch ein von niedrigerer Höhe aus geführter Nato-Luftfeldzug nicht zum gewünschten politischen Ziel geführt hätte. Einzig eine schnelle und wagehalsige Bodenoffensive hätte die Vertreibung der Kosovo-Albaner im März verhindern können – und weder die USA noch die anderen Nato-Staaten waren bereit, für dieses politische Ziel eigene Opfer zu riskieren. Miloševic dagegen war in der Lage, jeden Schaden durch Bombardieren aus großer Höhe zu ertragen, obwohl er die Bomben-Drohung tatsächlich bis zuletzt für einen westlichen Bluff hielt.
Natürlich, Miloševic' Strategie im Kosovo war schierer, zügelloser Wahnsinn. Kein normaler Mensch konnte ernsthaft glauben, dass die Vertreibung von einer Million Menschen ohne Folgen bleiben würde. So gesehen war Miloševic' Amselfeld-Abenteuer auch ein weiterer Schritt im langsamen Sterben des wahnwitzigen, selbstmörderischen Konzepts „Serbischer Chauvinismus“.
Seit neustem wird auch im Westen offen ausgesprochen, dass sich Miloševic erst zur Kapitulation entschied, als seine Berater ihm klargemacht hatten, dass die Nato bereit zu einer Bodenoffensive sei – notfalls auch bis Belgrad. Wenn jedoch eine solche Drohung Mitte März glaubwürdig wirkte, dann bedeutet das, dass der Luftkrieg unsinnig war.
Das bringt uns zum Kern der Dinge: Ethnische Säuberungen, wie wir sie in den Balkan-Kriegen der vergangenen acht Jahre kennen gelernt haben, sind ein Geschäft für Bodentruppen – reine Beinarbeit, Dorf für Dorf, Massengrab für Massengrab. Ethnische Säuberungen gehen schneller, wenn motorbetriebene Fahrzeuge eingesetzt werden – aber es geht auch zu Fuß. Es ist sicherer, wenn Mörser und Artillerie benutzt werden, um Häuser zu zerstören – aber es geht auch mit Handgranaten und Zippo-Feuerzeug. Und: Ethnische Säuberungen können einzig von bewaffneter Infanterie verhindert werden, die die betroffenen Zivilisten schützt – aber nicht mit Luftangriffen von eine Höhe von 5.000 Metern aus.
Für die Politiker und Generäle der Nato-Staaten gibt angesichts dessen keinen Anlass zu Triumphgefühlen. Sie haben Artilleriegeschosse im Wert von hunderten von Millionen benutzt, um Attrappen zu zerstören. Und das militärische Material, das tatsächlich zerstört wurde, war von keiner tatsächlichen Relevanz für Miloševic. Die jugoslawischen Truppen konnten derweil fröhlich weiter Kosovo-Albaner ermorden, ausplündern und auswiesen. Kein Wunder, dass Miloševic' Militär- und Polizeikräfte das Amselfeld in Siegerlaune verließen: Sie haben nicht nur ihre Aufgabe vollendet und das überlebt, sondern konnten sogar noch ihre Beute retten.
Miloš Vasic
(Deutsch von Rüdiger Rossig)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen