■ Kosovo und die Folgen (11): Der Westen, die Vertreibung der Serben und die Gewalt. Eine Antwort auf Erich Rathfelder: Wem nutzt ein souveränes Kosovo?
Die Nato-Intervention in Jugoslawien war von Beginn an zwiespältig. Einerseits wurde im Namen der Menschenrechte Krieg geführt: konkret, um die Massenvertreibung der Kosovo-Albaner und den serbischen Terror zu beenden. Andererseits betätigte sich die Nato realpolitisch gleichzeitig als Luftwaffe der Kosovo-Befreiungsarmee UÇK, die sich über den neuen Verbündeten freuen konnte.
Dass sich dieser Widerspruch zuspitzen würde, war voraussehbar: Die UÇK wollte immer einen unabhängigen, von ihr beherrschten Staat, der Westen will eben dies nicht. Der Zwist um die Abgabe der Waffen der Befreiungsarmee am vergangenen Wochenende war so gesehen nur eine Episode in diesen Konflikt, nicht sein Ende. „Die UÇK hat die Macht übernommen und ignoriert die UN“, resümierte die New York Times.
Von den rund 200.000 Serben im Kosovo sind seit der Befreiung mehr als 170.000 vor dem Terror ihrer albanischen Nachbarn geflohen. Diese Gewalttaten sind keineswegs unerfreuliche, aber verständliche, spontane Racheakte. Jene Serben, die Verbrechen an Kosovo-Albaner begingen, sind längst weg. Was jetzt stattfindet, ist eine „organisierte und systematische Einschüchterung aller Serbinnen und Serben aus dem einzigen Grund, weil sie serbisch sind“. So Veton Surroi, Herausgeber der kosovo-albanischen Zeitung Koha Ditore und langjähriger Kämpfer gegen die Diktatur Belgrads.
Die Vertreibungen sind nicht nur organisierter Terror – sie decken sich auch mit dem Ziel der UÇK: einem unabhängigem Kosovo. Auf diesem Weg stören Minderheiten. Der Westen dagegen will aus gutem Grund keine gewaltsame Grenzveränderung in Europa; schon gar keine, die er selbst herbeigebombt hat. Deshalb votiert er bis heute für den Verbleib des Kosovo bei Jugoslawien. Doch gleichzeitig hat die Nato-Schutztruppe KFOR die Vertreibung der Serben nicht verhindert. Das multiethnische Kosovo ist eine Fiktion geworden. In dieser komplizierten Lage empfiehlt Erich Rathfelder (taz, 16. 9.), der Westen solle den „Freiheitswillen“ der Kosovaren akzeptieren und ja zur Unabhängkeit sagen. Den Kosovaren sei nach zehnjährigem Apartheidsregime und dem Terror der Milizen im Frühjahr eine Existenz innerhalb Jugoslawiens nicht mehr zumutbar. Dass dem zur Zeit so ist, ist nachvollziehbar – aber das ist nicht das Problem. Denn Teil Jugoslawiens ist das Kosovo bereits jetzt nur noch auf dem Papier, faktisch wird es von UN, KFOR und UÇK regiert.
Wer sich angesichts dessen zum Fürsprecher der zentralen Forderung der UÇK macht, nämlich eines unabhängigen Kosovo, unterschlägt zweierlei: Erstens hat die bundesdeutsche Linke seit Vietnam eine Reihe von Erfahrungen mit nationalen Befreiungsbewegungen gesammelt, aus denen man etwas lernen könnte. Zum Beispiel, dass die Idee des „guten Nationalismus“ sich stets als Projektion entpuppt hat. Einmal an die Macht gelangt, kamen früher oder später Chauvinismus und Machtarroganz zum Vorschein.
Zweitens ist die UÇK ein eher obskures Objekt, um diesen guten, alten Freiheitstraum noch einmal zu reinszenieren. Ihren Kern bildet eine frühere stalinistische Sekte, ihr Verständnis von Pressefreiheit ähnelt dem von Pinochet, der Umgang ihrer Führer mit Konkurrenten erinnert an die Gepflogenheiten der PKK. Derzeit ist die UÇK stark – und Rugovas „Demokratische Liga“ LDK schwach. Die Unabhängigkeit würde direkt in einen UÇK-Staat führen, in dem Demokratie klein und Korruption groß geschrieben würde.
Das wäre nicht nur für das Kosovo selbst eine fragwürdige Beglückung – auch der Nato-Krieg würde in ein neues Licht gerückt. Der Westen könnte seinen Anspruch, für Menschenrechte interveniert zu haben, ad acta legen; die Nato hätte eingestandenermaßen vor allem das Geschäft des albanischen Nationalismus betrieben.
Zudem wäre dieser Kurswechsel bigott: Nachdem der Westen den gemäßigten, pazifistischen Albanerführer Rugova jahrelang kalt lächelnd ignorierte, um Miloševic nicht zu reizen, soll er sich nun der UÇK fügen. Dies würde die mühsam gezimmerte Rechtfertigungskonstruktion der Nato-Intervention erschüttern: Angetreten, um Gewalt mit Gewalt zu beenden, würde sich der Westen einer Gewaltdrohung beugen.
Ein vom Westen abgesegneter UÇK-Staat wäre ein verheerendes Signal für ähnliche Konflikte in der Zukunft: Wer auf friedliche, nicht nationalistische Lösungen setzt, verliert – wer sich ausreichend militant und chauvinistisch aufführt, bekommt am Ende, was er will. Das wäre der ideologische und moralische Bankrott jeder „bewaffneten Menschenrechtspolitik“ des Westens.
Und ein riskanter zudem. Denn die Frage, ob das Kosovo unabhängig bleiben würde oder ob dies ein Zwischenschritt zu einem Großalbanien wäre, ist offen. Ebenso, ob ein solches Großalbanien die wackelige ethnische Balance in Makedonien zum Einsturz bringen würde. Was wiederum das bulgarische Intereresse an Skopje wieder beleben könnte. Das wiederum würde Griechenland tangieren – und so weiter.
Nein, kein Alarmismus. Aber es gilt im Blick zu behalten, dass jede Grenzveränderung in einer Region wie dem Balkan, wo sich ethnische und staatliche Grenzen überlappen, Dominoeffekte haben kann. Für diesen Fall würde die Nato-Intervention in Jugoslawien als Versuch in die Geschichtsbücher eingehen, einen Brand mit Benzin zu löschen. Deshalb ist es fahrlässig, den kosovo-albanischen Nationalismus schönzureden. Wenn das kosovarische Unabhängigkeitsstreben schon heute derart brutal ans Werk geht, ahnt man, was noch kommt. Es ist ein Vorgeschmack auf das, was nicht nur den verbliebenen Serben und Roma, sondern wohl auch jeder kosovo-albanischen Opposition blüht, wenn die UÇK erst ungebremst regiert.
Was tun? Das Klügste ist eine auf Ausgleich bedachte und an den alltäglichen Interessen aller Kosovaren ausgerichtete Politik der internationalen Gemeinschaft. Wer ein Dach über dem Kopf und Aussicht auf eine sichere Existenz hat, ist in der Regel weniger empfänglich für nationalistische Demagogie. Wenn es der KFOR nicht gelingt, die Vertreibung von Serben und Roma zu stoppen, dann muss die missliche Möglichkeit in Betracht gezogen werden, diese in eigene Kantone umzusiedeln.
Gleichzeitig sollte die UN-Verwaltung die zivilen, demokratischen, kosovo-albanischen Kräfte fördern und die UCK schwächen – ohne sie in den Untergrund zu treiben und sich Verhältnisse wie in Nordirland einzuhandeln. All das sind Balanceakte, die Geduld und Ausdauer erfordern. Es wird Krisen, Rückschläge und Fehler geben. Nur eines darf die internationale Gemeinschaft auf keinen Fall tun: das Kosovo der UÇK überlassen. Stefan Reinecke
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