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Archiv-Artikel

Kontrollierte Verschwendung

VERMÄCHTNIS Der chilenisch-französische Filmemacher Raúl Ruiz, der Könner verrätselter Erzählperspektiven und Figuren, ist letzte Woche verstorben. Sein letztes großes, weltweit gefeiertes Werk, „Geheimnisse von Lissabon“, ist ein überwältigendes Geschenk

Kämpferisch stellt er sich gegen ein Kino, das seine Geschichte um einen zentralen Konflikt herum baut

VON EKKEHARD KNÖRER

Raúl Ruiz, der vergangene Woche starb, war ein Filmemacher, und zwar mit mehr als hundert Filmen ein sehr produktiver; er war ein Bücherverrückter und über die Maßen belesen; er hatte vor seinem ersten Kurzfilm schon hundert Stücke geschrieben und inszenierte immer wieder auch am Theater; in Le Havre leitete er ein Museum, außerdem schrieb er ein paar der eigenwilligsten Bücher über das Kino (vor allem das zweibändige „Poetics of Cinema“), in denen ein Song von Adriano Celentano als Motto und die chinesische Malerei ebenso ihren Platz haben wie Hollywood und der mittelalterliche Philosoph Ramon Lull; der Stil von Ruiz’ Buch ist mit Absicht barock, ein „Hoppelpoppel“ voller „Wortpurzelbäume“, so steht es im Vorwort, und natürlich hat das Methode.

Kämpferisch und spielerisch stellt er sich gegen ein Kino, das seine Geschichte um einen zentralen Konflikt herum baut. Er selbst arbeitet mit Lust und schwindelerregenden Erfolgen an der Abschaffung der Zentralperspektive, triumphal zuletzt noch in seinem auf der ganzen Welt gefeierten Film „Geheimnisse von Lissabon“, der fürs Fernsehen entstand, aber auf vielen Festivals, etwa in München, zu sehen war und nicht nur dort den Rest des Programms überragte. Die Serien-Langfassung war vor ein paar Monaten sogar schon auf Arte zu sehen, nur krähte kein Hahn danach, weiß der Teufel, warum.

Der Film, die Serie beruhen auf einem 1854 veröffentlichten Roman des in Portugal als Klassiker gehandelten, im Rest der Welt unbekannten und weitestgehend unübersetzten Autors Camilo Castelo Branco. Ein Vielschreiber, Bibliografien verzeichnen an die dreihundert Bücher. Die Fülle, die Menge, das Immerweitermachen und Niemalsaufhören, das ständige Weiterschlingen von Erzählsträngen sind nicht Problem, sondern Methode, bei Castelo Branco oder Victor Hugo wie bei Ruiz, weil es ihnen nicht darum geht, gültige Formen ein für allemal in Steine zu meißeln.

In Ruiz’ Filmen ist kein Bild je ganz es selbst, alles stets anders perspektivierbar, erste Anscheine trügen und endgültige Wahrheiten gibt es nicht. Figuren und Erzählstränge werden verschoben, gefaltet, mit Variation wiederholt, zu seltsamen Schleifen geknüpft.

Wo fängt es an? Mit einem im Waisenhaus lebenden Jungen namens João Pedro da Silva, der ganz zu Beginn eine Kugel an den Kopf bekommt und das Bewusstsein verliert. Als er wieder erwacht, sitzt Padre Dinis, der Priester, der das Waisenhaus leitet, an seinem Bett. Eine mysteriöse Frau besucht ihn, die vielleicht seine Mutter ist. Von hier an und mit diesen drei Figuren beginnt sich eine Intrige zu entfalten, der weitere Intrigen, passionierte Liebesgeschichten, Mordanschläge und Machtspiele folgen. Teils klären sich Zusammenhänge auf, teils wird alles nur weiter verwickelt. Der Priester vor allem ist nicht, wer er scheint, er hat jedenfalls noch ganz andere Identitäten. Vom Hölzchen aufs Stöcken erzählt der Film diese Leben wie einen wundersam sich in kleine Nebenverästelungen verzweigenden Traum. Er springt in die Vergangenheit und lässt sich da nieder und springt wieder auf. Es geschehen mysteriöseste Sachen. Der eine zieht in die Ferne, der andere erscheint, wo ihn keiner erwartet.

Ein geheimer Raum

In seinen ästhetischen Mitteln ist der Film der Inbegriff kontrollierter Verschwendung. Die Bilder und Einstellungen sind wunderbar intelligent und von oft unfassbarer Schönheit. Die sonst bei Ruiz oft herrschende Willkür der Perspektiven und Bewegungen erscheint gebändigt, die Kamera bewegt sich und rahmt, zwar noch barock und exzentrisch, aber sublimer denn je. In ständigem Gleiten eröffnet sie Bildräume und erzählt, in dem sie Akzente verschiebt, ohne Worte ihre eigenen Geschichten.

Ganz zu Beginn etwa gibt es eine Parallelfahrt zu einem Spaziergang von João Pedro und Padre Dinis. Hinter den beiden strukturiert eine Hecke den mittleren Bildgrund. Dann öffnet sich eine Lücke in dieser Hecke, der Blick geht auf eine Szene an einem nach hinten führenden Weg: Drei Galgen, an denen drei Männer baumeln, drei Frauen trauern davor.

Die Kamera stoppt, Pedro geht zu den Galgen, ein kleiner Junge erzählt ihm, einer der Toten sei sein Vater. Der Padre ruft, auch die Kamera scheint zu „rufen“, indem sie sich mit ihm in Bewegung setzt. Pedro kehrt in den Bildvordergrund zurück, die Kamera nimmt ihn nach links mit, wo sich nun auch die Hecke fortsetzt. In Kompositionen wie diesen wird auf allen filmischen Ebenen erzählt: In Dialog und Musik, vor allem aber in der Bewegung und Verschiebung der Körper im Raum und der Verschiebung des Raums in der Bewegung der Kamera, die so geradezu Erzählerqualitäten gewinnt.

In unzähligen Einstellungen wie diesen gewinnt Raúl Ruiz’ Verfilmung dem Erzähllabyrinth der Vorlage genuin Filmisches ab. In einer Schlüsselszene werden wir in einen geheimen Raum sozusagen hinter die Kulissen der wie ein perfektes Uhrwerk laufenden Erzählmechanik geführt. Unheimlichkeiten eigener, sehr Ruiz’scher Art treten hinzu. Menschen fallen ohne Grund und erwachen verwirrt. Es werden Geigen gespielt, ohne dass der Bogen die Saite berührt.

Ganz am Ende noch eine Wendung, die alles in ganz anderes Licht rückt. Das Leben ist ein Traum, bei Raúl Ruiz wie beim Barockdichter Calderón de la Barca. Und die „Geheimnisse von Lissabon“ sind ein überwältigendes Geschenk und Vermächtnis.

■ „Geheimnisse von Lissabon“ („Mistérios de Lisboa“). Regie: Raúl Ruiz. Portugal 2010, 266 Min. Eine DVD-Edition mit englischen Untertiteln ist über clapfilmes.pt zu beziehen