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Archiv-Artikel

Kontrollierte Freiheit

Befürworter hielten das „Abhören von Gangsterwohnungen“ für unerlässlich

von CHRISTIAN RATH

Mit großen angeklebten Pappohren protestierten 1998 die Gegner des großen Lauschangriffs. „Die Wände bekommen Ohren“ war ihr Slogan, die „Unverletzlichkeit der Wohnung“ sollte verteidigt werden. Ohne Erfolg. Heute, rund fünf Jahre später, verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die Zulässigkeit dieser Grundgesetzänderung. Geklagt hatten unter anderem die FDP-Politiker Burkhard Hirsch, Gerhard Baum und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Fast ein Jahrzehnt lang hat der Streit um den großen Lauschangriff die deutsche Innenpolitik geprägt. Er wurde zum zentralen Symbol des Konflikts „Freiheit versus Sicherheit“. Die Befürworter sahen im „Abhören von Gangsterwohnungen“ ein dringend erforderliches Instrument gegen die „organisierte Kriminalität“, die Gegner glaubten den letzten Rückzugsraum des Bürgers, das „freie Sprechen in den eigenen vier Wänden“, in Gefahr.

Auch an anderen heiklen Polizeimaßnahmen, etwa dem Einsatz verdeckter Ermittler, hätte sich dieser Grundkonflikt entzünden können. Aber für den großen Lauschangriff war eine Grundgesetzänderung erforderlich, was die Durchsetzung deutlich erschwerte und den Gegnern wirksame Hebel in die Hand gab.

Die Forderung kam zunächst aus der CDU/CSU. Doch die SPD signalisierte schon 1993 Zustimmung. Man wollte beim Thema innere Sicherheit nicht in die Defensive geraten. Damit war die erforderliche Mehrheit für eine Grundgesetzänderung eigentlich beisammen. Doch neben den Grünen war auch die FDP gegen den großen Lauschangriff, und diese bildete damals mit der Union die Bundesregierung. Also wartete man bei der Union auf einen Sinneswandel des kleinen Koalitionspartners.

Dort drehte sich der Wind, als Wolfgang Gerhardt Parteichef wurde. Er sprach sich für den Lauschangriff aus, und die FDP-Basis folgte ihm 1995 in einer Mitgliederbefragung mit einer Mehrheit von 63,6 Prozent. Als Konsequenz trat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von ihrem Posten als Justizministerin zurück. „Ich kann die FDP-Politik nicht mehr glaubwürdig vertreten“, lautete ihre Begründung. Auch Burkhard Hirsch gab seinen Posten als innenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion auf.

Dann dauerte es aber weitere zwei Jahre, bis die Modalitäten der Neuregelung ausgehandelt waren. Auf Druck von SPD und FDP waren zahlreiche rechtsstaatliche Sicherungen in den neuen Grundgesetzartikel und in die Bestimmungen der Strafprozessordnung (StPO) eingebaut worden. Geistliche, Strafverteidiger und Abgeordnete dürfen in ihren Wohn- und Arbeitsräumen generell nicht belauscht werden. Betroffene müssen in der Regel binnen sechs Monaten benachrichtigt werden. Außerdem dürfen nur spezialisierte Gerichte den Lauschangriff anordnen, und dem Bundestag muss regelmäßig berichtet werden.

So erhielt die Grundgesetzänderung die nötige Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat, doch die StPO-Änderungen mussten auf Wunsch des damals SPD-dominierten Bundesrats in den Vermittlungsausschuss. Am Ende geschah etwas äußerst Ungewöhnliches: Mit den Stimmen von zahlreichen FDP-Abgeordneten (inklusive Hans-Dietrich Genschers, Jürgen Möllemanns und Otto Graf Lambsdorffs) beschlossen SPD und Grüne im Bundestag, dass auch Ärzte, Journalisten und Anwälte vor Lauschangriffen geschützt werden. Dies galt als die erste große Abstimmungsniederlage der Regierung Kohl.

Dass das Verfassungsgericht nun eine mündliche Verhandlung über die Klage der FDP-Politiker anberaumt hat, können diese bereits als großen Erfolg verbuchen. Eine ähnliche Verfassungsbeschwerde gegen das Hamburger Polizeigesetz war in Karlsruhe vor zwei Jahren als unzulässig abgelehnt worden. Auch dort waren die Kläger vorsorglich nach Karlsruhe gegangen und noch nicht abgehört worden.

Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass das Verfassungsgericht die Grundgesetzänderung rückgängig macht. In über 50 Jahren hat das Gericht noch nie einen Grundgesetzartikel als „verfassungswidriges Verfassungsrecht“ eingestuft. Denkbar sind aber Korrekturen in Details, etwa bei der Benachrichtigungspflicht. Auch die Abhörberichte an den Bundestag gelten als verbesserungsfähig.