Konsumverzicht im Selbstversuch: Askese macht Angst
Wenn Wohlstandsbürger befristet aus der Konsumwelt aussteigen, ist das für Hartz-IV-Empfänger kein Trost.
E s gibt eine neue Gattung von Abenteuerliteratur. Ihre Autoren berichten darin, autobiografisch, vom zeitweiligen Ausstieg aus der Konsumwelt. Das gab es zwar auch früher schon, aber erst heute lassen sich darüber Bücher schreiben, die ihre Leser offenbar wohlig schaudern lassen. Mitzuverfolgen, dass sich jemand der "extremen Prüfung des Nichtkonsumierens" aussetzt, wie es Judith Levine, Autorin von "No Shopping! Ein Selbstversuch" formuliert, verspricht Spannung und Überraschung. (Andere Bücher desselben Typs sind Leo Hickmans "Fast nackt" oder Neil Boormans "Good bye, Logo".)
Im Unterschied zu Konsumverweigerern früherer Jahrzehnte, die einfach gegen die Wohlstands- oder Wegwerfgesellschaft protestierten und stolz auf ihre Unabhängigkeit waren, spüren die heutigen Konsumasketen, dass sie mehr als nur ein paar Bequemlichkeiten verlieren, wenn sie keine Kosmetik, keine Haushaltsgeräte und kein Sportzubehör mehr kaufen. Wer oder was ist man überhaupt noch, wenn man mit dem Einkaufen aufhört? Levine, die ein Jahr lang Konsumverzicht leistete, stellt als Bilanz ihres Experiments sogar die Frage, "ob ein Mensch abseits der Welt käuflich erworbener Dinge und Erlebnisse ein ganz normales soziales, kulturelles oder familiäres Leben, einen Beruf, eine Identität, ja ein Ich haben kann".
Statt in der Askese zu sich zu finden oder zumindest alles mit ungeahnter Intensität zu erleben, haben Levine und ihr Lebensgefährte mit diversen Einschränkungen und Verlusten zu kämpfen. Schon im Vorfeld kommt es zu "Panikattacken, Angstzuständen, Depressionen", und spätestens als die Autorin ihre Skisocken verloren hat und nicht nachkaufen "darf", erfährt sie ihre Abhängigkeit von den Konsumgütern. Da die Socken auf ihrem Etikett "permanente Höchstleistung" versprachen, befürchtet sie nämlich, nun nicht mehr fit genug für die Piste zu sein. Anderen Socken aus ihren Beständen traut sie also nichts zu, sondern schmollt lieber - und geht gar nicht mehr zum Skifahren.
Auch wenn das Diktum "Consumo, ergo sum" und seine von Barbara Kruger geprägte Variante "I shop, therefore I am" in letzter Zeit etwas zu oft strapaziert wurde, scheint man also nicht umhin zu können, es nochmals zu zitieren: Wer sich von den Konsumströmen entfernt, dem geht es tatsächlich an die Existenz - und der darf sich entsprechend als neuer Held fühlen. Die Autoren der Selbstversuche tun jedenfalls einiges dazu, damit ein solches Bild von ihnen entsteht. Allein dass die Aufzeichnungen bei Judith Levine wie ein Tagebuch oder Protokoll angelegt sind, suggeriert, es sei notwendig, das Experiment vollständig zu überwachen, um jede Bewusstseinsveränderung sofort festzustellen.
Es ist nicht ohne Koketterie, wenn Konsumverweigerer sich so wichtig nehmen und zur Sensation stilisieren. Sie vergessen dann nämlich, dass es zeitgleich in ihrer nächsten Umgebung zahlreiche unfreiwillige Helden gibt, die jene extreme Prüfung des Nichtkonsumierens nicht als befristetes Experiment, sondern als Folge von Arbeitslosigkeit oder Verarmung zu erdulden haben. Was also ist mit dem sozialen, kulturellen und familiären Leben eines Hartz-IV-Empfängers? Kann er überhaupt eine Identität und ein Ich haben, wenn ihm die meisten Formen der Partizipation an der Konsumwelt vorenthalten bleiben?
Nimmt man Ernst, was Levine und andere als Erfahrung ihrer Selbstversuche beschreiben, dann sollten jedenfalls die Alarmglocken schellen. So kommt es nicht nur zu vielen Ausgrenzungen dadurch, dass Formen sozialen und kulturellen Lebens kommerzialisiert wurden und deshalb nur noch gegen Geld zugänglich sind. Vielmehr muss, wer nicht viel ausgeben kann, sich auch mit Fakes von Produkten herumschlagen. Statt Ware zu bekommen, die nichts zusätzlich verheißt, sondern ganz auf ihren Gebrauchswert reduziert ist, leidet man dann darunter, dass einem ebenso wie von teuren Produkten Coolness, Fitness, Wellness versprochen, diese Features aber denkbar schlecht inszeniert werden.
Viele preiswerte Konsumgüter sind also geradezu zynisch, weil sie dem Käufer vorführen, was man sich grundsätzlich wünschen könnte, es ihm aber zugleich gnadenlos vorenthalten. Auf Billigsocken mag auch etwas von "Höchstleistung" stehen, doch sind ihr Material, ihre Verarbeitung und ihre Verpackung so schäbig, dass keinerlei Suggestion - Vorfreude aufs Skifahren oder sportlicher Ehrgeiz - entstehen kann. Die Aufschrift auf dem Etikett ist nicht mehr als eine hohle Phrase.
Wer am Rand der Konsumgesellschaft lebt, wird somit andauernd daran erinnert, was ihm oder ihr verwehrt bleibt. Die eigenen Lebensbedingungen als Variante von Abenteuerliteratur wiederzufinden, die Wohlstandsbürger für andere Wohlstandsbürger schreiben, um ihnen zu ein bisschen Grusel zu verhelfen, dürfte dann ebenfalls eher diskriminierend als tröstlich sein.
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