■ Konfusion am Ende des Superwahljahrs: Leute, spielt Mikado!
„Es ist wie beim Mikado-Spiel: Wenn sich nur etwas bewegt, gerät alles durcheinander.“ „Wer“, so fragt sich Robert Leicht in der Zeit, „wagt es da noch, hineinzulangen?“ Tatsächlich ist eine Woche vor dem Wahltag so ziemlich alles unklar. Der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit der durch die Meinungsforschungsinstitute befragten Personen entspricht die Ambivalenz der Aussagen der Parteien. Das gilt, zumindest im Falle der beiden Großen, sowohl für das Programm als auch für eine mögliche Regierungsbildung.
Nimmt man die Aussagen von Kohl, Kinkel, Scharping und selbst grüner Führungsfiguren wie Fischer und Volmer ernst, wird nach dem 16. Oktober keine Regierung gebildet werden können. Keine Große Koalition, behaupten Kohl und Scharping. Keine Ampel, tönen FDP und Grüne. Da nach den meisten Umfragen zur Zeit weder CDU/CSU plus FDP noch Rot- Grün allein eine Regierung stellen können, bleiben gutgläubige WählerInnen verwirrt zurück.
Rationale Entscheidungen setzen voraus, daß einigermaßen klar ist, welche Konsequenzen damit verbunden sind. Genau das ist aber, trotz „Superwahljahr“ und dem damit verbundenem Dauerwahlkampf, ganz und gar unklar. Bis heute hat die SPD sich gescheut, offiziell auf Rot-Grün zu setzen, bis heute wollten Scharping und Verheugen keinen Koalitionswahlkampf führen, was, auch bis heute, entsprechende inhaltliche Leerstellen hinterlassen hat. Im gesamten Wahlkampf hat die SPD nicht zu ihren Themen gefunden, gab es keinen eindeutigen Kristallisationspunkt, den die Masse der WählerInnen mit einem Regierungswechsel von Kohl zu Scharping quasi reflexartig assoziieren würde, fehlt immer noch das sozialdemokratische Label.
Gestartet war Scharping mit der Parole „Arbeit, Arbeit, Arbeit“. Als ihm dies bei den Europawahlen nur Strafarbeit statt Stimmen einbrachte, schaltete die Wahlkampfzentrale der SPD um. Mit dem Signal von Magdeburg, der Minderheitsregierung in Sachsen- Anhalt, zog die Partei die Notbremse, um dem sich verfestigenden Eindruck, Scharping wolle sowieso nur Juniorpartner in einer Großen Koalition werden, noch einmal etwas entgegensetzen zu können. Doch aus dem Signal wurde nicht viel mehr als ein Pfeifen im Walde. Der logischen Konsequenz, nun bundesweit für eine rot-grüne Koalition einzutreten und dadurch endlich auch programmatisch an Schärfe zu gewinnen, verweigerte Scharping sich.
Statt dessen ließ er sich von Kohl auf die PDS-Frage festnageln. So legitim die Diskussion um den Charakter der PDS ist, so sicher ist auch, daß von der Beantwortung dieser Frage keine der relevanten Entscheidungen der kommenden Jahre abhängt. Kein CDU-Propagandist glaubt tatsächlich an die Gefahr der „Rückkehr des Kommunismus“, niemand nimmt auch nur im entferntesten an, diesmal, 1994, könne der Sozialismus in Deutschland erstmals durch freie Wahlen an die Macht kommen. Das ist angesichts der innerdeutschen, europäischen und globalen Entwicklung so abwegig, daß auch Kohl auf jegliche inhaltlichen Details in der Ausschmückung seines Horrorgemäldes verzichtete. Selbst eine Beteiligung der PDS an einer Koalition wäre kein politisches, sondern ein moralisches Problem. SPD und Grüne sollten und werden sich wohl auch davor hüten, sich nun die Globkes ins Haus zu holen, auf die die CDU in den 50er Jahren nicht verzichten wollte. Nur darum geht es und nur in diesem Sinne darum, welche Konsequenzen deutsche Politik aus den Erfahrungen mit zwei totalitären Systemen zieht.
Da aber wird es merkwürdig leise im Wahlkampf. Demokratisierung nach innen und verbindliche Aussagen zur deutschen Rolle in Europa, der Nato und der UNO sind kein Thema – bei der SPD nicht und bei Kohl schon gar nicht. Kohl ist sich auch da Programm genug. Er steht für die europäische Integration, bestätigen ihm auch seine Gegner, aber gilt das noch für die Partei? Ist die Kerneuropa-Debatte, von Schäuble initiiert und der CDU-Fraktion gebilligt, nun der verunglückte Versuch einer Beschleunigung der Integration oder der Anfang vom Ausstieg aus der Europäischen Union? Bleibt die Westbindung Staatsdoktrin auch des vereinigten Deutschland, oder läßt die Union demnächst ihre Geopolitiker wieder von der Leine, die den Zugewinn der Optionen für das nun wieder souveräne Vaterland auch politisch ausreizen wollen? Ist die politische Antwort auf das Out-of-area-Urteil des BVG nun die Beschränkung auf UN-kommandierte Blauhelmeinsätze außerhalb des Nato- Verteidigungsgebietes, oder sollen Rühes Krisenreaktionskräfte wieder zum klassischen Instrument einer nationalen, militärgestützten Außenpolitik werden?
Alles Fragen, auf die der Wahlkampf keine Antwort gegeben hat, weil die SPD, bedingt durch eigene Uneinigkeit, darauf verzichtet hat, zwei klare unterschiedliche außenpolitische Konzepte gegeneinanderzustellen. Statt dessen verkündete Scharping auf der Münchner Wehrkundetagung, die Außenpolitik einer SPD-Regierung würde sich im Grundsatz nicht von der amtierenden Regierung unterscheiden.
Die Unklarheiten in der Außenpolitik werden nun nicht gerade durch besondere Präzision in der Innenpolitik kompensiert. Seit Scharping sich entschlossen hat, die Dominanz der Person Kohl nicht durch Programmatik, sondern durch personellen Zuwachs zu brechen, erleben potentielle SPD-Wähler jede Woche wieder ein neues Schröder-Solo. Tempolimit? Nein danke. Rüstungsproduktion? Muß nun mal sein, und Große Koalitionen haben doch auch ihren Charme, besonders wenn Gerhard S. Bundesminister wird. Während Lafontaine auf Wahlveranstaltungen weiterhin vom ökologischen Umbau redet, kommt dieser im 100-Tage-Programm der Regierung Scharping gar nicht mehr vor. Deutschland, freu dich auf den Wechsel?
Bleibt Kohl also, wo er ist, um weiteren Reformdruck anzustauen? Ganz und gar nicht. Meinungsforscher versichern uns, die Mehrheit der WählerInnen wolle trotz alledem nach wie vor den Wechsel. Viele können sich zwar zurecht nicht vorstellen, in welcher Konstellation der über die Bonner Bühne gehen soll, aber das hat weniger mit den WählerInnen als mit den Akteuren zu tun. Scharping, vom Gemüt her schon nicht gerade ein Einpeitscher, hat in diesem Wahlkampf systematisch alle Gelegenheiten verstreichen lassen, an denen sich eine Reformdebatte hätte entzünden können. Allein, ohne die SPD und ganz ohne einen Koalitionswahlkampf, waren natürlich die Grünen auch nicht in der Lage, die Hoffnungen auf einen grundsätzlichen Politikwechsel zu einer bestimmenden Erwartung zu machen.
Scharping, stöhnen SPDler, sei ein mieser Kandidat, aber er wäre ein guter Kanzler. Möglich, daß er trotz des Wahlkampfes noch Gelegenheit dazu bekommt – wenn er sich denn traut. Das Mikadospiel endet am kommenden Sonntag 18 Uhr. Bis dahin können noch einige Stäbchen verrutschen ... Jürgen Gottschlich
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