Kommentar: Kunst mit Dachschaden
Ein Sturm würfelt in Kassel Exponate durcheinander - die Macher und Künstler nehmen diese intellektuelle Herausforderung an.
Wie das Publikum seiner Vernissage zu begegnen habe, das hat Ausstellungsleiter Roger Buergel im Vorfeld bereits festgelegt. Die documenta sei eine "intellektuelle Herausforderung", punctum. Wer darüber spotte, so Buergel apodiktisch, der sei halt ein Verlierer im evolutionären Wettbewerb: "So einfach ist das." Ist es das? Wer sich nicht "einlässt", der hats nicht begriffen?
Arno Frank, 36, ist taz-Redakteur, hat Kunstgeschichte studiert und bedauert es heute sehr
Zunächst einmal ist Buergels Einlassung eine dialektische Volte, wie man sie auch von Sektenführern und Hütchenspielern kennt. Kein Wunder, inszeniert sich doch auch der zeitgenössische Kunstbetrieb gern als säkulare Ersatzreligion, die Erkenntnis verspricht und Glauben einfordert. Wird dieses quasireligiöse Gebot verletzt, dann ist die Kunst "persönlich wirklich verletzt", wie es die chilenische Künstlerin Lotty Rosenfeld ausdrückte: "Es ist ein Akt der Gewalt, und ich fühle mich missachtet". Was war passiert?
Rosenfeld hatte in Santiago hunderte Fahrbahnstriche zu Kreuzen gemacht, um mit diesem Symbol gegen die Brutalität des Diktators Augusto Pinochet zu protestieren. Das war 1979. Seitdem geht Rosenfeld mit dieser Idee auf Tournee und lebt nicht schlecht davon, überall auf der Welt mit ihren Kreuzen beim kniffligen "Aufspüren verborgener Machtverhältnisse" zu "helfen". So auch in Kassel, wo allerdings die "Machtverhältnisse" so aussahen, dass wackere Straßenarbeiter, womöglich alte Pinochet-Sympathisanten, die Kreuze kurzerhand entfernten.
Gegen das Diktat der Kunst ist selbst die Denkmalpflege machtlos und muss es eben hinnehmen, wenn das geschützte Landschaftsensemble am Herkules durch die Anlage terrassenförmiger Reisfelder ruiniert wird. Warum nicht gleich dem Kölner Dom das Dach einer Pagode aufsetzen, der Kunst zuliebe?
Mit welcher Chuzpe die Verantwortlichen hier am Werk sind, zeigte das Sturmtief "Franz", das Mittwochnacht einen Holzturm des Chinesen Ai Weiwei umwarf. Der Künstler nahms als meteorologisches Happening und verdoppelte den Preis des Exponats, die documenta-Sprecherin Catrin Seefranz sekundierte eifrig und staunte über die "erstaunlich ästhetische Weise", in der das Gebilde zusammengestürzt sei. Vielleicht sollte der Schutthaufen jetzt auch angezündet werden, damit seine polymorph zersplitterte Materialität auf sinnliche Weise in eine spannende neue Form transzendieren kann. Erst wenn wir unsere verknoteten Denkstrukturen aufgekrustet haben, lernen wir womöglich, die beim Unwetter vollgelaufenen Keller als experimentellen Flutfluxus und die durch den jüngsten Regen ebenfalls ins Rutschen gekommenen Reisfelder als migrierende Land-Art-Plastiken "anzusprechen". Die Kunst hockt offenbar gern im Sandkasten und spielt "Backe, backe, Kuchen". Sie dafür zu bewundern, ist eine "intellektuelle Herausforderung", der nicht jeder gewachsen ist. So einfach ist das.
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