Kommentar: Vom Nutzen des Pathos
Der Niedergang der Volksparteien scheint unaufhaltsam. Der Grund ist klar: Trotz inszenierter Konflikte ähneln sich ihre Programme. Das demotiviert immer mehr Wähler.
P olitiker und Medien spielen momentan das muntere Koalitionsspiel "Wer kann mit wem". Stefan Reinecke hat klargemacht, dass man diese taktischen Vorwahlkampfspielchen nicht ernst nehmen sollte, denn es sind nur Bonbons für Publikum und Nebelgranaten im Wettbewerb der Parteien untereinander.
Rudolf Walther lebt als Journalist in Frankfurt am Main und arbeitet für deutsche und schweizerische Zeitungen. Zusammen mit Werner Bartens und Martin Halter schrieb er das "Letzte Lexikon", das bei Eichborn erschienen ist.
Schaut man hinter die Kulissen des Polittheaters, stößt man auf die Probleme der Volksparteien - und zwar nicht nur hierzulande. Die Resultate der Bundestagswahlen, der Nationalratswahlen in Österreich und der Parlamentswahlen in den Niederlanden lassen einen Trend erkennen. Dieser weist klar in Richtung großer Koalitionen, die nicht aus Neigung, sondern aus der puren Verlegenheit zustande kommen, dass es für eine Wunschkoalition nicht reicht. Die sozialdemokratischen wie die konservativen Parteien verlieren so viele Stimmen, dass Zweierkoalitionen mit einem kleineren linken oder rechten Wunschpartner nicht mehr möglich sind. Nur in Ländern mit Mehrheitswahlrecht wie Frankreich oder Großbritannien bleiben die Volksparteien davon unberührt.
Der Trend jedoch verweist auf eine Krise der Volksparteien. Der Begriff wird zu einer Kennzeichnung, die man nur noch in Anführungszeichen verwenden kann. Denn sie erfüllen nicht mehr den Anspruch, große Teiles des Volkes mit einer Vielzahl von Interessen und Mentalitäten in einer eher linken und einer eher konservativen Partei zu bündeln. Das gilt in rein quantitativer Hinsicht: Selbst der kleine Automobilclub von Deutschland (AvD) hat 200.000 Mitglieder mehr als die beiden deutschen "Volksparteien" zusammen.
Wenn diese "Volksparteien" mit ihren Programmen nur noch einen Wähleranteil irgendwo zwischen 25 und 40 Prozent gewinnen und nebenbei viel Wahlabstinenz erzeugen, kann beim besten Willen nicht mehr von "Volksparteien" die Rede sein. Der Anteil der "Partei" der Nichtwähler ist in allen genannten Ländern größer als die Anteile der "Volksparteien". Nur der kreuzfidele Klaus Wowereit konnte sich mit seinem 30,8-Prozent-Ergebnis als "Wahlsieger" inszenieren. Ein schöner Sieger das.
Der Versuch, diese Entwicklung mit der angeblich schädlichen Parteienvielfalt zu erklären, überzeugt vielleicht die Instant-Soziologen in den Feuilletons und die Fernseh-Wahlexperten, enthüllt jedoch nur deren demokratietheoretische Defizite. Warum soll denn eine Vielzahl von Parteien - im vernünftigen Ausmaß von fünf bis acht Parteien - in einer heterogenen und pluralistischen Gesellschaft eine Fehlentwicklung oder Gefahr sein? Die Socialistische Partij in Holland (16 Prozent), Die Linke in der Bundesrepublik (geschätzte 8 Prozent) sowie die Grünen in Österreich (11 Prozent) haben Erfolg, weil sie ein vergleichsweise klares Profil haben und einigermaßen authentisch auftreten im Gegensatz zu den immer seifiger werdenden Sozial- und Christdemokraten in ihrem Streit über die "mittigste" Mitte. Diese Mitte-Parteien haben gegen die Konkurrenten von links wie von rechts keine sachlichen und politischen Argumente und schon gar kein wirkliches Gegenprogramm parat. Sie kennen nur die wohlfeile Keule: Alles jenseits des "volksparteilichen" Juste-milieu-Jargons ist "Populismus".
Der Aufstieg von "Sozialisten", "Linken" und "Grünen" in den genannten Ländern ist kein Zeichen für die Schwäche der Demokratie oder für "Weimarer Verhältnisse", sondern eines für das Versagen der "Volksparteien". Mit ihrer talkshowmäßigen Geschwätzigkeit, ihrer programmatischen Profillosigkeit und ihrem politischen Konformismus überbieten sie sich im Kampf um die Mitte. Dabei hobeln sie unentwegt ihre Unterschiede ab, bis sie nicht mehr unterscheidbar sind und sich damit selbst delegitimieren. So erzeugen sie nur noch Desinteresse, ja politische Enthaltung.
Das Spekulieren über zukünftige Dreierkonstellationen - also Bündnisse von Rot-Rot-Grün, Schwarz-Gelb-Grün oder Rot-Gelb-Grün - blendet aus, welche Sprengsätze mit diesen verbunden Koalitionen verbunden wären. Alle Parteien, eingeschlossen die "Linke", würden mit solchen Dreierkoalitionen mehr oder weniger große Teile ihrer eigenen Stammwählerschaft vergrätzen. Wohin die Verprellten dann gehen werden - zu den Nichtwählern oder zur Konkurrenz -, ist schwer zu sagen, könnte aber die Gewichte plötzlich so verschieben, dass die Koalitionsstrategen alt aussehen und sich ganze Parteiflügel nach links oder rechts abspalten würden.
Grundsätzlich stellt sich die Frage: Sind die Gesellschaften heute so heterogen, dass die Zeiten für Volksparteien abgelaufen sind? Bejaht man diese Frage, müssen sich die vermeintlichen "Volksparteien" nach dem von ihnen tatsächlich vertretenen Interessenprofil umbenennen. Verneint man die Frage, stellt sich jene nach der Überlebensfähigkeit von "Volksparteien" als Volksparteien.
Sozialdemokraten wie Christdemokraten/Konservative sollten sich nicht weiter "modernisieren" bis zur Farblosigkeit, sondern sich auf ihre Tradition rückbesinnen - als Parteien demokratischer Sozialisten und demokratischer Konservativer. Es geht nicht um die Wiederbelebung von Traditionsvereinen und Hauskassierern, wie die FAZ kürzlich schwadronierte, sondern um politische Selbstreflexion, mit der eine zeitgemäße programmatische Orientierung des demokratischen Sozialismus oder demokratischen Konservatismus wiedergefunden werden kann. Von traditionalistischen Mustern ("Wachstum", "Vollbeschäftigung", "Sozialstaat als Rundumversorgung", "Reichensteuer") wird man sich parteiübergreifend entschiedener verabschieden müssen, als dies im Wahlmanifest "Vertrauen in Deutschland" (SPD) und im neuen Programm der CDU geschieht.
Es geht um neue Konzepte und Alternativen zur neoliberalen Politik und ihren dürftigen Angeboten. Schlicht formuliert lautet die Frage: Wie wollen wir leben und zusammenleben - heute, morgen und übermorgen? "Wir brauchen den anderen Fortschritt () Der andere Fortschritt, das ist gewiss auch die Vermehrung des materiellen Wohlstands - eines Wohlstands allerdings, der anders, gerechter in der Welt verteilt sein müsste; eines Wohlstands mit Maß und Vernunft, keines Wohlstands zum Wegwerfen und Neukaufen. Der andere Fortschritt aber ist vor allem Vermehrung der Qualität, nicht der Quantität: Qualität der Konsumgüter, Qualität der Bildung, Qualität der Kommunikation und ihrer Mittel. Qualität der Arbeit, Qualität der Umwelt, Qualität des Lebens."
Das Pathos dieser Worte Satzes von vor 20 Jahren ist unüberhörbar. Sie stammen von Oskar Lafontaine. Aber mit den darin formulierten Ansprüchen sind heute SPD wie CDU/CSU konfrontiert. Wollen sie Volksparteien bleiben oder wieder werden, müssen sie ihre Ansprüche vor dem Hintergrund ihrer Tradition im Einzelnen bestimmen - und zwar vor dem Theater um Personalfragen und Koalitionskalküle.
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