Kommentar: Aufschwung braucht brotlose Künste
Die Ost-Unis sind bei den Geisteswissenschaften nur dünn besetzt. Das trägt nicht gerade zur Stärkung der Zivilgesellschaft zwischen Rügen und Zittau bei.
W elche Hochschulen Ostdeutschland für den erhofften Aufschwung brauchen würde, schien nach der Vereinigung völlig klar zu sein. Wirtschaftsnah sollten sie sein und praxisbezogen, mit einem Schwerpunkt in technischen Fächern und möglichst wenig brotlosen Künsten, für die es doch in Westdeutschland schon viel zu viele Institute gab. Am konsequentesten verfolgte Sachsen diese Politik, wo den drei Technischen Universitäten in Dresden, Chemnitz und Freiberg nur eine einzige klassische Universität in Leipzig gegenübersteht. Und, siehe da: Die Wirtschaft florierte - ganz im Gegensatz zu Mecklenburg-Vorpommern, das seine beiden Traditionsunis in Rostock und Greifswald erst mühsam amputieren musste.
Ralph Bollmann ist Leiter des taz-Ressorts Inland
Das war offenbar zu kurzfristig gedacht, wie Wissenschaftler jetzt pünktlich zum "Jahr der Geisteswissenschaften" herausgefunden haben. Weil angehende Geisteswissenschaftlerinnen zum Studium in den Westen abwandern und männliche Technikstudenten von dort zuziehen, verschärft diese Form der Hochschulpolitik die demografischen Probleme des Ostens sogar noch - sagen die Forscher. Doch damit argumentieren sie selbst an viel grundsätzlicheren Problemen vorbei. Dass die Bedeutung diskursorientierter Institute und Studiengänge im Osten oft unterschätzt wird, ist nicht zuletzt das Symptom einer vielerorts sehr lückenhaften demokratischen Zivilgesellschaft - deren Aufbau dadurch weiter behindert wird. Außerdem schwächt er empfindlich die Präsenz in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit. In den Talkshows geben Politologen aus Göttingen oder Mainz den Ton an, und auch in anderen Bereichen glänzt der Osten nach dem Rückzug der DDR-Bürgerrechtler nicht gerade durch kommunikative Kompetenz.
Dass es anders geht, zeigen die wenigen Erfolgsgeschichten wie etwa Jena. Zum Aufschwung der traditionsreichen Universitätsstadt haben florierende Geisteswissenschaften und wirtschaftlicher Erfolg gleichermaßen beigetragen. Das ist ein langfristiger Prozess, der sich gegenseitig bedingt: Namhafte Geisteswissenschaftler kommen nur in attraktive Städte, andererseits werden Universitätsstädte nur durch ihre Geisteswissenschaften wirklich attraktiv.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr