Kommentar: Bibeltreue Parallelgesellschaft
In Nordrhein-Westfalen streiten christliche Fundamentalisten doppelt so häufig vor Gericht gegen die Schulpflicht wie Muslime. Sind Christen integrationsunwillig?
K inder, die in Parallelgesellschaften aufwachsen und sogar vom Unterricht in staatlichen Schulen abgemeldet werden: Wer denkt da nicht zunächst an muslimische Mädchen, die nicht an Klassenfahrten und am Schwimmunterricht teilnehmen dürfen? Doch das kommt viel seltener vor als angenommen. Und es sind auch nicht die Muslime, die am häufigsten religiös begründete Einwände gegen die Schulpflicht vorbringen. Eine Statistik in Nordrhein-Westfalen ergab, dass christliche Fundamentalisten doppelt so häufig vor Gericht gegen die Schulpflicht streiten wie Muslime.
Christian Rath ist rechtspolitischer Korrespondent der taz, mit Sitz in Freiburg.
Noch öfter als Muslime wollen die Hardcore-Christen ihre Kinder gleich ganz, nicht nur in einzelnen Fächern, aus öffentlichen Schulen fernhalten. Sind Christen also integrationsunwillig? Ist das Christentum eine Religion, die sich nicht mit einer modernen Gesellschaft verträgt? Das möchte man die Partei mit dem C gerne fragen.
Doch auch wenn die christlichen Fundamentalisten nur kleine Sekten sind, oft mit russlanddeutschem Hintergrund, so muss sich die Gesellschaft doch überlegen, wie sie mit diesem Phänomen umgeht. Natürlich hat die Schulpflicht gerade bei den Kindern ihren Sinn: Wie sollen sie Toleranz lernen und wie können sie unsere weltliche, pluralistische Gesellschaft verstehen, wenn sie nicht einmal in der Schule Kontakt zu Kindern aus anderen Milieus haben?
Dennoch stößt gerade der Rechtsstaat irgendwann an seine Grenzen. Wenn Eltern lieber ins Gefängnis gehen als ihre Kinder zur Schule zu lassen, wie soll der Staat da reagieren? Das Sorgerecht zu entziehen ist eine Möglichkeit. Aber vielleicht schadet dies den Kindern mehr als der Verzicht auf eine lebensnahe Schulerziehung. Bei hartgesottenen Schulverweigerern wie jetzt in Baden-Württemberg müssen - letztlich im Interesse der Kinder - auch faule Kompromisse erwogen werden: etwa, dass die Eltern einen Schulunterricht organisieren, der sich immerhin weitgehend an den staatlichen Lehrplan anlehnt - mit Gemeinschaftskunde und Fremdsprachen. Aber ohne Darwin, Sex und Harry Potter.
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