Kommentar: Kein zweiter Schindler
Die Stifter des Preises zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wollen am Namensgeber Walter Linse festhalten. Sie machen damit ihr antitotalitäres Engagement unglaubwürdig.
S ollen wir jemand als Opfer des Stalinismus ehren, der in der NS-Zeit an der Enteignung von Juden teilhatte? Diese Frage stellt sich bei Walter Linse, nach dem der Förderverein der Stasi-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen einen Preis benennen will. Linse wurde 1952 von der Stasi aus Westberlin entführt und nach einem Schauprozess in Moskau ermordet - doch in der NS-Zeit war er an der Arisierung jüdischen Eigentums beteiligt.
Stefan Reinecke ist Redakteur der taz und Autor des Buches "Otto Schily. Vom RAF-Anwalt zum Innenminister".
Der Fall ist kniffelig, zumindest nicht ganz klar. Es gab in der NS-Zeit sehr wenige Deutsche, die sich bei Arisierungen loyal zu Juden verhielten. Dass Linse zu diesen höchst seltenen Ausnahmen gehörte, ist nicht auszuschließen, allerdings wenig wahrscheinlich. Umso erstaunlicher wirkt die Reaktion der antistalinistischen Preisstifter. Das Mindeste wäre, dass sie eine historische Recherche über Linses Aktivität in der NS-Zeit in Auftrag geben und die Entscheidung so lange vertagen. Doch offenbar wollten sie unbeirrt an Linse festhalten - in der vagen Hoffnung, dass er sich als zweiter Oskar Schindler entpuppen könnte. Das aber ist wieder nur der alte deutsche Traum, ein Volk von lauter unerkannten Widerständlern gewesen zu sein.
Eigentlich müssten die Antistalinisten inzwischen begriffen haben, dass sie sich blamieren, wenn sie sich ignorant gegenüber der NS-Geschichte verhalten. In den 90ern wurde schon mal eine KZ-Aufseherin als Opfer des Stalinismus präsentiert, später wurden in Halle NS-Kriegsverbrecher als Opfer sowjetischer Unrechtsjustiz inszeniert. Diese geschichtspolitische Verbohrtheit mag daran liegen, dass sich manche, die unter dem Realsozialismus leiden mussten, als "Opfer zweiter Klasse" fühlen. Aber das rechtfertigt keineswegs Blindheit gegenüber den NS-Verbrechen.
Der Linse-Preis soll, so der Exbundesverfassungsrichter Klein, einen antitotalitären Widerständler ehren, "der sich den Prinzipien des Rechtsstaates verpflichtet sah". Arisierung hatte mit rechtsstaatlichen Prinzipien nichts zu tun. Wenn die Berliner Stasi-Gedenkstätte Antitotalitarismus nur als Antikommunismus begreift, verliert sie jede Glaubwürdigkeit.
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