Kommentar: Keine kraftvollen Symbole
Soziale Bewegungen brauchen ihre Rituale. Die des 1. Mai sind verbraucht.
Der „Tag der Arbeit“ ist der Höhepunkt des Gewerkschaftsjahres. Die meisten kommen zu diesem Fest, weil sie dort alte Bekannte treffen oder weil sie davon ausgehen, dass man erwartet, sie dort zu sehen. Bürgermeister Jens Böhrnsen stand in der zweiten Reihe vor dem Lautsprecherwagen und war einer der wenigen, die – der Körperhaltung nach zu urteilen – über weite Strecken zuhörte. Nur hin und wieder kontrollierte er diskret die neuen Nachrichten auf seinem Smartphone.
Verloren stand da schräg hinter ihm ein Grüppchen der Firma mdexx, dieser kämpferischen Belegschaft einer Siemens-Tochterfirma, die in den letzten Jahren systematische Ausgliederung und Arbeitsplatzabbau erlebt hat. Aber der 1. Mai kräftigt nicht mehr für den Arbeitskampf, das gewerkschaftliche Ritual hat seine suggestive Kraft verloren.
Ein Ritual, das so kraftvoll wirken könnte wie das Abendmahl in der christlichen Tradition, kann man nicht erfinden. Das „Mahl der Arbeit“ am Vorabend der Feier des Tages der Arbeit ist für auserwählte Funktionäre da und eher ein Pflichttermin. Da die Gewerkschaftsbewegung keine anderen Symbole hat, steht die Rede im Mittelpunkt – gerade die Rede hat sich entleert. Man könnte sie genauso auf lateinisch halten. Oder weglassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an