■ Kommentar: Mißverständnisse
Mißverständnisse können schnell entstehen. Die neue Verbindung sei „auch“ unter südlicher Umgehung des jüdischen Friedhofs Weißensee vorstellbar, hatten SPD und CDU in ihrem gemeinsamen Antrag zum Bau einer Betonmeile zwischen der Hansa- und Arthur-Becker-Straße geschrieben. Eilig bemühten sie sich am Wochenende, das „Mißverständnis“ auszuräumen. Natürlich denke man nicht daran, die fehlende Trasse über den Friedhof zu legen, sondern ihn südlich zu umgehen, tönte es aus beiden Parteien gemeinsam. Nur der CDU-Abgeordnete Hans Müller ließ sich zur Bemerkung hinreißen, neue Gespräche mit der Jüdischen Gemeinde seien denkbar, sollten auch alle Umgehungs-Planungen nichts fruchten. Hinter diesem Satz des Ostberliner Abgeordneten, der 1969 der damaligen DDR-Blockpartei CDU beitrat, kommt ein merkwürdiges Geschichtsbewußtsein zum Vorschein. Schon einmal hatten DDR-Verkehrsplaner den Friedhof mit einer Straße durchbrechen wollen. Erst ein Machtwort von Erich Honecker beendete 1986, wohl auch aus Rücksicht auf die damals bevorstehenden 750-Jahr-Feiern, den fast sieben Jahre andauernden Konflikt. Es ist schon schlimm genug, daß in naher Zukunft in unmittelbarer Nähe des Friedhofs der Verkehr vorbeibrausen soll. Wenn heute ein Abgeordneter neue Verhandlungen mit der Jüdischen Gemeinde nicht ausschließen will, kommen Zweifel auf, ob hinter den kryptischen Formulierungen des Antrags nicht der heimliche Wunsch steckt, es der DDR gleichzumachen. Dabei stehen auf dem einst heftig umstrittenen Friedhofsstreifen mittlerweile Grabsteine. In der Mehrzahl liegen dort russische Juden, die in den letzten Jahren in die Bundesrepublik einwanderten. Der Friedhof ist also nicht nur ein museales Relikt. Vielmehr legt er Zeugnis ab vom Leben der Juden in Deutschland und erinnert zugleich auch an ihre Vernichtung. Es ist ein Friedhof, der wie viele andere genutzt wird. Planspiele jeder Art, die darauf spekulieren, die Trasse vielleicht doch eines Tages für den Verkehr freizuräumen, verbieten sich daher von vornherein. Wer sich darauf einläßt, zeigt weniger Feingefühl als der vielgescholtene Mann im chilenischen Exil. Die Gründe für Honeckers Handeln sind nicht bekannt. Aber seine Entscheidung war – immerhin – unmißverständlich. Severin Weiland
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen