Kommentar: Vertrauensbruchstelle
■ 620-Mark-Jobs sollen sozialversicherungspflichtig werden
Bei der Reform der 620-Mark-Jobs wäre die rot-grüne Koalition gut beraten, die schlechten Erfahrungen mit der Sozialpolitik der Vorgängerregierung zu berücksichtigen. Als am 1. Januar 1995 erstmals Beiträge zur Pflegeversicherung vom Gehalt eingezogen wurden, hob ein unwilliges Murren gegen die Pläne Norbert Blüms an. In den Zeitungen wurden bunte Grafiken populär, die den Anstieg der Beitragslast auf den Arbeitslohn in den vergangenen Jahren eindrucksvoll zeigten. Auch die Gewerkschaften nörgelten heftiger als zuvor, die Abgabenlast für die Arbeitnehmer sei zu hoch, die Lohnnebenkosten müßten sinken. Die Zäsur war da in der öffentlichen Wahrnehmung der Sozialpolitik: Plötzlich standen nicht mehr die Leistungen und deren Kürzung im Vordergrund, sondern die Beiträge, die der einzelne in die Solidargemeinschaft einzahlen muß.
Die Bereitschaft, an die solidarische Umverteilung durch die Sozialkassen zu glauben, ist seither in der Öffentlichkeit weiter geschwunden. Genau damit wird die rot-grüne Regierung jetzt ein Problem bekommen, wenn die geringfügige Beschäftigung, die sogenannten 620-Mark- Jobs, sozialversicherungspflichtig wird. Für Hausfrauen, Studenten und Rentner heißt dies nichts anderes, als daß künftig vom Geringverdienten noch weniger übrigbleibt. Wobei das Versicherungsprinzip übrigens mißachtet wird: Die Arbeitgeber zahlen zwar für ihre Beschäftigten einen Beitrag zur Arbeitslosenversicherung, diese haben aber kein Recht auf Arbeitslosengeld. Was den Verdacht bestätigt, daß mit der neuen Abgabenpflicht vor allem die Sozialkassen aufgefüllt werden sollen – um beispielsweise die teuren Korrekturen in der Gesundheitspolitik zu bezahlen.
Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der neuen Abgaben auf das Jobangebot und die Kaufkraft sind noch offen. Die soziokulturellen Auswirkungen hingegen zeigen sich schon jetzt. Nur eine Minderheit der Verkäuferinnen, Zeitungszusteller und Putzfrauen haben ein Interesse daran, in die Rentenkassen einzuzahlen, so ergaben Studien. Die meisten werden die neuen Beiträge als Zwangsabgabe empfinden. Zwangsabgaben, die Millionen von Familien mit hinzuverdienenden Ehefrauen treffen. Die Versicherungspflicht für die Mini-Jobs könnte sich somit als erste Vertrauensbruchstelle zwischen Öffentlichkeit und rot-grüner Regierung erweisen. Barbara Dribbusch
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