Kommentar: Hauptstadtfähig?
■ Berliner Schwindelanfälle vor dem EU-Gipfelsturm
Es geht wieder ein Gespenst um, allerdings nicht in Europa, sondern in Berlin. Es trägt keine rote Socken und auch kein weißes Bettlaken, sondern es ist, schlimmer noch, unsichtbar. Sein Name: Hauptstadtfähigkeit.
Seitdem die Gewerkschaft der Polizei nach den Kurdenprotesten ebenjene in Zweifel gezogen hat, ziehen andere ihre Stirn kraus und tragen Sorge. Gibt man nicht in einigen Wochen die Eröffnung des Reichstags oder neudeutsch: des Plenarbereichs Reichstagsgebäude bekannt? Und findet nicht kurz darauf die Wahl des neuen Staatsoberhaupts statt? Droht nicht ab September ein heißer Herbst, wenn Gerhard und Joschka ihr feines Tuch durch die arme Stadt tragen? So sehr ängstigt das Gespenst bereits, daß sich im Vorfeld des EU-Gipfels der Berliner Brigadegeneral Eckart Fischer beeilte zu erklären: „Die Bundeswehr ist hauptstadtfähig.“
Nun wird man nicht gleich mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Auch in Preußen schießt man nicht bei jedem Gipfelsturm gleich mit Kanonen auf Spatzen. Daß EU in der Berliner Provinz vor allem als „extrem unsicher“ buchstabiert wird, nimmt einen allerdings kaum wunder. Schließlich verbirgt sich hinter dem Label „fähig“ ganz offensichtlich die schiere Angst vor dem Gegenteil. Zu Unrecht?
Angefangen hat alles im Jahre 1995. Ein halbes Jahr vor der Abstimmung zur Länderfusion mit Brandenburg überraschte Berlin die Nachbarn damit, Potsdam hauptstadtfähig machen zu wollen. Der Grund: Nach erfolgter Fusion wäre Potsdam als gemeinsamer Regierungssitz vorgesehen gewesen. Aber daraus wurde, fähig oder unfähig, bekanntlich nichts.
Künftig aber war die Vokabel in aller Munde: Ob Reichstagsakustik, Olympiastadion, alles mußte plötzlich hauptstadtfähig sein. Doch damit löste die Angst vor bloßer Provinzfertigkeit eine andere nur ab: jene nämlich, gar keine richtige Stadt zu sein. Bevor Berlin hauptstadtfähig sein mußte, sollte es nämlich urban sein. Das Ergebnis kennen wir. Man buchstabiert es nicht mit EU, sondern mit Potsdamer Platz oder Friedrichstraße.
Aber so sind sie halt, die Berliner Gipfelstürmer. Immer vorne weg, bis ihnen schwindlig wird. Uwe Rada
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