piwik no script img

KommentarGekonnter Abgang – und ein Neuanfang? ■ Zum Machtwechsel in Moskau

Der Abgang des Patriarchen Boris Jelzin erinnerte noch einmal an die großen Stunden des russischen Hoffnungsträgers. Ja, damals war es Jelzin, der das kommunistische Regime demontierte und die Fundamente für eine offene Gesellschaft legte. Nur die in ihn gesetzten Erwartungen hat er nicht erfüllt.

Dennoch findet mit dem Rücktritt des ersten vom Volk gewählten russischen Präsidenten auch ein erster demokratischer Wechsel an der Spitze in der tausendjährigen Geschichte dieses Staates statt. Befürchtungen, im Falle Jelzins werde erst der Tod Thron und Herrscher scheiden, erwiesen sich als falsch. Dass die korrupte Kreml-Entourage mit der „Inszenierung Wladimir Putin“ einen ihr wohlgesinnten Nachfolger über Nacht zum einzig aussichtsreichen Prätendenten aufbauen konnte, spielt dabei eine geringere Rolle – setzen nicht auch britische Premiers Wahlen an, wenn es ihnen zum Machterhalt gelegen kommt?

Die wichtigere Frage lautet: Führt Putin das strauchelnde Riesenreich zurück auf den Reformweg? Die Kräfteverhältnisse in der neuen Duma würden das zulassen. Ob der Zar in spe den steinigen Weg jedoch beschreitet? Sporen hat er sich bisher nur durch den Kaukasuskrieg verdient, gestalterische Akzente setzte der Kriegspremier bislang nicht.

Putin tritt ein schwieriges Erbe an. Russland krankt seit langem an einem Dilemma: Die Autorität der staatlichen Strukturen zerfällt, ohne dass die Gesellschaft aus sich heraus ein Gegengewicht schaffen konnte. Noch immer führen zivile Formen ein kümmerliches Randdasein. Spätestens der Kosovokonflikt zeigte: Der russische Bürger identifiziert sich mit der Macht des Staatswesens und der Größe des Territoriums mehr als mit dem jungen Nationsgebilde. Staats- und Reichsbewusstsein haben den Zerfall der UdSSR überlebt. Dem verdankt Putin, der kaukasische Sprengmeister, seine heutige Popularität.

Leicht könnte der neue Zar der Versuchung erliegen, die bisherige, anachronistische Politik fortzusetzen – zumal die stagnierende Wirtschaft wenig Spielraum bietet, das weitaus schwierigere Projekt einer russischen zivilen Gesellschaft unbeschadet in Angriff zu nehmen. Die Wahl seiner Berater wird bald erste Schlüsse darüber zulassen, wie sich Putin entscheidet. Klaus-Helge Donath

Tagesthema Seiten 2 und 3

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen