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Kommentar zur Streit um das Turbo-AbiSchwierige Debatte

Kaija Kutter
Kommentar von Kaija Kutter

In der Debatte um die Verlängerung der Schulzeit überlagern sich verschiedene Interessen und drohen schwer absehbare Konsequenzen, vor allem für die Stadtschule. Das macht den Diskurs diffus.

D ie Debatte über das Turbo-Abitur in Hamburg ist schwierig zu führen. Denn Eltern, die sich für ihr Kind am Gymnasium mehr Zeit wünschen, könnten es ja zur Stadtteilschule geben. Eine Volksinitiative gegen das Turbo-Abitur in acht Jahren wird von manchen gar als Angriff auf die Stadtteilschule gesehen, die man um ihren Vorteil bringen will, mit dem sie für leistungsstarke Schüler attraktiv wird.

Man kann dieser Elterninitiative vorwerfen, dass sie sich nur um die Gymnasien Gedanken macht. Die Stadteilschulen müssen für alle Kinder da sein und die Inklusion behinderter Schüler fast allein bewältigen. Das ist nicht einzusehen.

Und doch hat die Kritik der Eltern ihre Berechtigung. Schließlich bietet die Stadt Gymnasium an und immerhin die Hälfte der Eltern wählen diesen Weg. Das Gymnasium bestimmt also das Leben vieler Kinder. Und so eine einmal in Klasse 4 getroffene Entscheidung lässt sich nicht leicht revidieren. Wie es den Turbo-Abiturienten geht und wie sie mit dem auch verkürzten Bachelor-Studium zurecht kommen, wird vom Senat nicht untersucht.

Die Politiker fast aller Parteien gehen auf die Sorgen der Eltern seit Jahren nicht ein. Stattdessen werden die immer gleichen Beschwichtigungen abgespult, man werde die Lehrinhalte straffen, für weniger Hausaufgaben sorgen. Nur hilft das allein nicht. Es geht auch darum, dass den Schülern die Zeit fehlt, um einfach nur Jugendliche zu sein und um eine eigene Kultur zu entwickeln. Für die Elterngeneration, die ihre Jugend anders erlebt hat, ist das ein Problem. Spätestens die zweite Stufe der Volksinitiative, bei der in drei Wochen 62.000 Unterschriften nötig sind, erfordert viel Engagement. Hier wird sich zeigen, wie groß der Leidensdruck ist. Ob sich nur einige Eltern medienwirksam inszenieren oder ob es wirklich ein Thema gibt, das viele Familien bewegt.

Schwierig bis unmöglich wird es dann, innerhalb der vorgegebenen Struktur eine gute Lösung zu finden. Gestattet man den Gymnasien die Rückkehr zum G9, besteht tatsächlich die Gefahr, dass die Stadtteilschule noch mehr zur Restschule wird. Besser wäre dann zu sagen, eine Schule für alle bis Klasse 10, die den Kindern in der Oberstufe zwei, drei oder vier Jahre Zeit gibt, je nachdem, was sie brauchen. Aber dann hat Hamburg wohl gleich den nächsten Volksentscheid.

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Kaija Kutter
Redakteurin taz-Hamburg
Jahrgang 1964, seit 1992 Redakteurin der taz am Standort Hamburg für Bildung und Soziales. Schwerpunkte Schulpolitik, Jugendhilfe, Familienpolitik und Alltagsthemen.
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2 Kommentare

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  • K
    Katharina

    @ Benutzername optional: Vielen Dank für Ihren qualifizierten Kommentar. Sie sprechen mir aus der Seele: Aus den heutigen Kindern programmatisch und systemorientiert asiatisch anmutende Arbeitsameisen zu zaubern, die sich außerhalb des vorgegebenen Horizonts bitte keinen weiteren Gedanken über die Welt mehr machen sollen, das scheint das neue "Bildungs"-System zu sein. Zu dumm, dass die Zeit der Aufklärung schon war ... aber vielleicht kann man die ja noch nachträglich negieren? G. W. Bush hat es ja schon vorgemacht: Einfach den Schulen verordnen, dass die biblische Schöpfungsgeschichte verbindlich ist und Darwin aus den Lehrinhalten streichen ... schon ist ein Meilenstein der Verdummung geschafft. Immer weiter so, und nebenher bloß keinen Raum zum selbstständigen Denken lassen - wer weiß, wohin uns das führen würde!

     

    Es ist ja leider nicht nur in HH so, aber dort besonders schlimm: Diktate wurden abgeschafft, Schreibschrift ebenso, Sitzenbleiben kann man nicht und die Stadtteilschulen kombinieren alle Naturwissenschaften in einem Fach und schaffen nebenbei die Informatik als Fach ab, ja also ... vielleicht sollte man Lehrinhalte generell abschaffen, dann absolviert man die gesamte Schulzeit schon nach Klasse 1?

    Das Hamburger Schulsystem ist ein echter Grund, um abzuwandern - so lindert man mittel- bis langfristig zumindest die dortige Wohnungsnot.

  • BO
    Benutzername optional

    Viele Punkte treffen auch für die Stadtteilschule zu. Von einer qualitativen Verbesserung kann man hier nicht sprechen.

    Es ist bequem und in jeder Hinsicht vorteilhaft für Staat und Wirtschaft, die Kinder schon möglichst früh von den Eltern zu trennen, den Erfahrungshorizont des einzelnen Kindes durch institutionelle Kanalisierung sicher und kontrollierbar auf das jeweils gewünschte Ziel zu beschränken, während Eltern (Männer und Frauen) auf einem in Zukunft durch technologischen Fortschritt noch weniger Arbeitsstellen bietenden Arbeitsmarkt für immer weniger Geld arbeiten gehen müssen.

     

    Menschliches Leben und Lebensqualität darf sich nicht einzig an wirtschaftlichen oder rein praktischen Erwägungen der Staatsführung orientieren.

     

    Menschwerdung und Menschsein braucht Zeit um Erfahrungen auch fern vom Kollektiv zu sammeln, Neues kennenzulernen, neue Menschen zu treffen, eigene Wege zu entdecken und gehen, zu versagen und zu gewinnen, Zeit für Korrekturen, Kontemplation aber auch Exzess und vieles mehr woraus man für sich individuell lernen und an dem man wachsen kann.

     

    Ebenso braucht gute Bildung Zeit. Zeit zum Vertiefen und ausgiebigen Erklären von Inhalten, die Qualität sicherstellt; aber auch um den Adepten eine Vielzahl an Fächern/Themen bieten zu können an denen sie Interesse entwickeln dürfen.

    Dieses beinhaltet auch Freizeit zur eigenverantwortlichen Eigengestaltung, die bei G8 als auch den Stadtteilschulen zu kurz kommt.

     

    Wenn Kinder weit nach 16 Uhr nach Hause kommen und teils noch lernen müssen, ist weder ausreichend Zeit noch Energie vorhanden für anderes.

     

    Das Thema Schule ist nur vordergründig nur ein "Kinderthema" . Es hat jedoch viel weitgreifendere Auswirkungen in die lokale Wirtschaftsentwicklung und Arbeitswelt generell. Es stellt uns ebenso vor die Frage wie wir Erwachsenen unser Leben leben wollen, wieviel wir arbeiten wollen und ob das gegenwärtige System in dem die Preisentwicklung den Gehältern davonläuft noch angemessen/zeitgemäß ist.

     

    Gute Bildung ist der Schlüssel zu positiven Entwicklungen für Leben/Wirtschaft/Staat, der Quell von Kreativität und Inspiration.

     

    Bei dem derzeitigen Stand des Bildungssystems insbesondere auch an den Stadtteilschulen werden wir nicht mehr lange warten müssen bis Staat und Eltern erkennen, welche Geister sie beschworen haben und wohin uns das führen wird.

    Ich kenne sehr viele Eltern die alles andere als zufrieden mit dem Maß an Bildung sind, welches ihre Kinder dort vermittelt bekommen, so sie sich denn kümmern.

    Ich hoffe innigst, daß auch dort sich Aufbegehren gegen die sehr limitierenden Strukturen und Umstände regt.

     

    Ein Blick nach Asien genügt, ein Anruf bei Handwerksbetrieben und Ausbildungsstätten ebenso, um sich Überblick zu verschaffen.

     

    Ich unterstütze das G9 Anliegen vollkommen, da wir nicht zusehen dürfen wie Bildung und Lebensfreiheit abgebaut wird.

     

    Wir leben in Europa - nicht China mit einer Überzahl an Menschen/Arbeitern. Die Rückkehr zu einer Industrienation erscheint hier unwarscheinlich.

     

    Bildung ist elementar für die Zukunft.

     

    Die eingeführten Reformen sind in keiner Weise ausreichend um den wissenschaftlichen und technologischen Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Die Struktur (auch die technische Ausstattung und Räumlichkeit) der Schule wird sich sowieso bald ändern müssen. Ein Abbau an Bildung kann diesbezüglich nicht zielführend sein.