piwik no script img

Kommentar zur GrenzöffnungDie Oder-Neiße-Grenze im Kopf

Kommentar von Adam Krzemiski

Abgelenkt vom Tagesgeschehen nehmen Deutsche und Polen nur selten die ganze Dimension des europäischen Wunders wahr. In die Köpfen ist die Grenze nach wie vor eingeritzt.

K eine Kontrollen mehr zwischen Görlitz und Zgorzelec. Jahrelang saß den Deutschen der Schock dieser Grenze im Nacken, die im Westen als Linie oder Perlenkette verleugnet wurde. Im Osten wurde sie zwar zur Freundschaftsgrenze erhoben, doch die NVA brachte 1981 an ihr ihre Panzer gegen die Solidarnosc in Stellung. Auch Willy Brandts Kniefall gehört zu dieser Grenze. Und 1990 weigerte sich Helmut Kohl über Monate hinweg, sie endgültig anzuerkennen.

Den Polen galt die Oder-Neiße-Grenze erst einmal als Frontlinie im tausendjährigen Ringen mit den Teutonen. Nach ihrer Öffnung in den 70er-Jahren aber bekamen sie plötzlich Millionen von DDR-Nachbarn zu Gesicht. Auch die Spürhunde der DDR-Grenzer. Und die DDR-Flüchtlinge, die 1989 auch über Polen gen Westen zogen.

Seit der Implosion des Kommunismus drängten sich andere Bilder in den Vordergrund. Die deutschen Skins, die den ersten polnischen Touristenbus nach der Aufhebung des Visazwangs mit Steinen empfingen. Die gemeinsame Vereidigung der deutschen und polnischen Soldaten auf der Oderbrücke. Und nun entfällt das alles. Die Neißebrücke in Görlitz ist wieder nur eine Brücke über einen Bach, den man im Sommer ohnehin durchwaten kann.

Abgelenkt vom politischen Tagesgeschehen, nehmen Deutsche und Polen nur selten die ganze Dimension des europäischen Wunders ihrer neuen Nachbarschaft wahr. Der Ärger, den wir miteinander haben. All das verdeckt die Tatsache, dass es deutsche Unternehmer ins boomende Breslau zieht und polnische Unternehmer aus Posen sich in mecklenburgischen Kleinstädten ansiedeln. In der Landschaft ist die deutsch-polnische Grenze seit Freitag fast unkenntlich geworden. In die Köpfe ist sie aber nach wie vor eingeritzt. Das zeigen die für Polen unerfreulichen deutschen Meinungsumfragen. Es ist an der Zeit, das deutsche Bewusstsein nach Osten zu erweitern. Es ist längst obsolet, Polen mit Autodieben, den Zwillingen, aufgebrezelten Frauen und Männern mit Schnäuzern zu assoziieren. Einfach mal nachschauen, ab jetzt auch ohne Stau.

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!