Kommentar zum SS-Gedenken in Lettland: Historischer Kurzschluss
Riga verteidigt den Aufmarsch für die Waffen-SS Jahr für Jahr und deutet Neonazis zu Patrioten um. Diese Blauäugigkeit beruht auf fataler Geschichtsklitterung.
M an mag einwenden, es stehe gerade uns Deutschen nicht an, ein Land wie Lettland wegen des Umgangs mit seinen ehemaligen SS-Angehörigen zu kritisieren. War doch im Deutschland eines Konrad Adenauers und Kurt Georg Kiesingers eine SS-Vergangenheit kein Hindernis für Staatsämter, fanden braune Seilschaften auch für Kriegsverbrecher nicht selten ein geschütztes Plätzchen.
Doch die Blauäugigkeit, mit der Riga Jahr für Jahr das SS-Gedenken verteidigt und damit auch dessen Instrumentalisierung durch Neonazis verharmlost, beruht auf fataler Geschichtsklitterung, die allenfalls individuelle Täter sehen will, wo es doch um eine verbrecherische und menschenverachtende Struktur ging.
Diese Struktur geht von einer auf das Schicksal der eigenen Nation reduzierten Rangliste erfahrener Ungerechtigkeiten aus, auf der die Besatzungszeit durch Nazideutschland zwar als schlimm, die durch die Schergen Stalins aber als noch schlimmer eingestuft. Und die die Werkzeuge nationalsozialistischer Welteroberungs- und Völkervernichtungspläne vor allem auf deren Rolle als Streiter gegen die Rote Armee reduzieren will.
ist taz-Korrespondent für Skandinavien und das Baltikum.
Ein böser Ausrutscher unterlief der litauischen Staatspräsidentin: Sie verharmloste die Teilnehmer einer Unabhängigkeitsveranstaltung, die seit Jahren von Rassisten missbraucht wird und in diesem Jahr deshalb verboten war, als „patriotische Jugend“.
Bei allem Verständnis für die Erfahrung der baltischen Staaten mit fünf Jahrzehnten sowjetischer Okkupation: In Ländern, die zu einer Gemeinschaft gehören, die nicht zuletzt gegründet wurde, damit sich niemals wiederholt, was von 1939 bis 1945 geschehen ist, dürfen keine SS-Heldengedenken und keine Feiern mehr möglich sein, bei denen Neonazis zu Patrioten umgedeutet werden.
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