Kommentar von Franziska Schindler und Frederik Eikmanns: Was ist von der Willkommenskultur übrig?
Die Hauptfiguren des Jahres 2015 waren die Geflüchteten. Sie trieben in dem Sommer die europäische Politik vor sich her und die Geschichte voran, sie überschritten Grenzen, erzwangen politische Entscheidungen – sie veränderten die Welt. Aber der Sommer 2015 wäre ein anderer geworden, wenn nicht zeitgleich in der deutschen Gesellschaft etwas Bemerkenswertes entstanden wäre: eine „Willkommenskultur“. Sie wurde zum Begriff für eine Hilfsbereitschaft, die sich damals ausbreitete und im September 2015 ihren Höhepunkt erreichte. Was genau war es, was sich da an den Bahnhöfen abspielte? In den Turnhallen und bis hinein in die höchsten Ebenen der Bundespolitik?
Das ist eine der zentralen Fragen, der wir in dieser zweiten Sonderausgabe zum Migrationssommer 2015 nachgehen. Ja, es waren auch Exotisierung und Paternalismus mit dabei. Aber auch Ehrliches, Bewegendes, Gutes. Eine gesellschaftliche Stimmung, in der Helfen cooler war, als zu Hause zu bleiben. Umso schmerzhafter ist es, dass sich die Offenheit von damals heute weitgehend ins Gegenteil verkehrt hat. Abschottung ist nicht erst seit der Amtsübernahme von Friedrich Merz als Bundeskanzler Leitmotiv der deutschen Migrationspolitik, Umfragen unter Wähler*innen zeigen dafür große Unterstützung.
Das führt zur zweiten großen Frage dieser Ausgabe: Was ist übrig von der Willkommenskultur? Manche Texte widmen sich den Leitfragen direkt. Sie ziehen sich aber auch durch die anderen Artikel: Wenn wir uns damit beschäftigen, wie es heute ist, als unbegleitetes geflüchtetes Kind in Deutschland aufgenommen zu werden. Wenn wir nach Polen schauen, auf den dortigen Umgang mit den ukrainischen Geflüchteten. Oder wenn wir die ugandische Autorin Stella Nyanzi vorstellen oder den Fußballer Feras al Mashhor. Wie schon in der Auftaktausgabe unserer Serie zum Migrationssommer 2015 ziehen sich Gedichte über die Zeitungsseiten. Sie stammen von geflüchteten Lyriker*innen, die heute in Deutschland leben. Ihre Stimmen sind deshalb so wichtig, weil sie daran erinnern, worum es in der Flüchtlingspolitik geht: um Menschen, die gerade dabei sind, sich hier ein neues Leben aufzubauen. Politische Entscheidungen und Gesetzesverschärfungen bestimmen vielfach ihren Alltag und viel zu oft ganze Biografien. Aber wie es sich bei alldem anfühlt, in dieser Gesellschaft anzukommen, entscheidet sich auch daran, wie es um die Willkommenskultur steht.
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