Kommentar "spickmich"-Urteil: Meilenstein für eine neue Lernkultur
Nichts braucht die Bildungsrepublik mehr als Noten - für die Lehrer. Kinder müssen früh darin zu geübt werden, Autoritäten einer kritischen und freundlichen Evaluierung zu unterziehen.
Christian Füller ist Bildungsredakteur der taz.
Noten sind ungenau. Sie werden nicht individuell vergeben, sondern nach der Gaußschen Normalverteilung gewissermaßen verstreut. Noten sind ein Fetisch der deutschen Schule. Und dennoch: Nichts braucht die Bildungsrepublik mehr als Noten - für die Lehrer. Deswegen ist das Urteil des Bundesgerichtshofs, die Bewertung von Paukern auf der Onlineplattform "spickmich" zu erlauben, ein Meilenstein.
Das alte Bild von Schule ist ohne die Note nicht denkbar. Vorn steht Lehrer Oberschlau - und sein wichtigstes Züchtigungsmittel seit der Abschaffung des Rohrstocks ist: die Ziffernote. Die Anordnung dieses Lernens hieß "Einer an alle" - und sie ist vorbei. Heute gibts in keiner Branche mehr den Helden, der im Alleingang alles schaffen könnte. Was wir brauchen, sind Problemlöser, die neuartige Fragestellungen im Team angehen. Wir brauchen selbstbewusste Leute, die die Methode "Alle an alle" beherrschen und einem Chef auf Augenhöhe gegenübertreten. Kinder schon früh darin zu üben, Autoritäten, also Lehrer, einer kritischen und dennoch freundlichen Evaluierung zu unterziehen, ist ein wichtiger Schritt in Richtung neuer Lernkultur: nicht der einzige - aber ein notwendiger.
Ja, es ist wahr. Dass Lehrerbewertungsportal "spickmich" hat schon schlimme Beleidigungen von Lehrern erlebt. Aber das ist Geschichte. Längst haben die "spickmich"-Macher den Schülerrülpser durch Kategorien und zivile Urteile wie "fachlich kompetent" oder "cool und witzig" ersetzt. Vielen Schulentwicklern reicht das nicht. Kein Problem - dann sollen sie eben intelligentere Indikatoren für Lehrerleistungen entwickeln.
Der konservative Deutsche Lehrerverband träumt immer noch davon, "spickmich" mithilfe von Verfassungsrichtern ausmerzen zu können. Das ist vollkommen abwegig. Wohl jede Berufsgruppe, die mit Kunden zu tun hat, muss sich künftig Bewertungen im Internet stellen. Erinnern wir uns: Einst wollten die Professoren "Noten für den Prof" nicht haben - heute sind sie aus der Hochschulkultur nicht mehr wegzudenken.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hatte die klagende Lehrerin vor Gericht unterstützt. Das war mitgliederpolitisch richtig, aber verbandspolitisch verheerend. Es wird Zeit, dass die GEW sich an die Spitze derer setzt, die eine fruchtbare und freundliche Rückmeldekultur entwickeln - und zwar mit "spickmich".
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