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Kommentar sexuelle Gewalt„Wir“ sind nicht immun

Heide Oestreich
Kommentar von Heide Oestreich

Mit der Aktion „ichhabnichtangezeigt“ erheben Opfer sexueller Gewalt ihre Stimme im Internet. Damit treten sie aus dem Schatten der Scham und Schuldgefühle heraus.

L esen Sie auch keine Broschüren? Zum Beispiel Faltblätter von gemeinnützigen Einrichtungen, die sexuelle Gewalt anprangern, erschütternde Fälle beschreiben und immer irgendwie in den vielen anderen Faltblättern untergehen? Und im Internetzeitalter: sinnvolle Homepages desselben Inhalts, die im Internet eher begraben als öffentlich sind? Die Kampagne „ichhabnichtangezeigt“ hat einen anderen Weg gewählt: Nicht Fachleute sprechen über Opfer sexueller Gewalt, sondern die Menschen selbst offenbaren sich, in kurzen Statements, über Facebook und Twitter. Andere NutzerInnen zwitschern es weiter, mehr Menschen machen mit.

So sollen soziale Medien funktionieren: Die Initiatorinnen brauchen kaum eine Infrastruktur, die Schwelle zum Handeln ist denkbar niedrig. Und auch die AdressatInnen können sich einfach beteiligen. Jede und jeder hat eine Stimme. Alle paar Stunden werden Adressen genannt, an die sich die Verletzten wenden können. Das ist neu. Denn es reißt eine Barriere ein, an der sehr viele Betroffene bisher nicht weitergegangen sind. Im Netz reden auch die, die keine Broschüre gelesen haben, die nicht zur Beratung, zu einer Selbsthilfegruppe, zur Polizei gefunden haben.

Diese plötzliche Nähe der Opfer macht aber auch etwas mit den Lesenden: Auf Twitter sind „wir alle“, dort findet ein Teil der sozialen Normalität statt. Im Gegensatz zum runden Tisch für Missbrauchsopfer, zu drastischen Fallberichten, zu berührenden Fernsehbeiträgen sind die Twitterer nicht spezielle Opfer und damit weit weg. Sondern sie haben einen Platz in der Netznormalität. Sind Twitterer wie du und ich.

Bild: taz
Heide Oestreich

ist Redakteurin für Geschlechterpolitik im Inlandsressort der taz.

So wichtig es ist, etwa die Verjährungsfristen bei sexuellen Gewalttaten endlich zu verlängern, die Teilhabe der Opfer an der Alltagskommunikation ist es mindestens ebenso. Denn die juristische Verfolgung ist und bleibt schwierig. Nur ein Bruchteil der Opfer zeigt die Folterer an. Die allermeisten Verfahren werden eingestellt.

Umso wichtiger ist es, den verletzten Menschen Raum zu schaffen, der sie nicht gleich wieder gettoisiert und vor der „normalen Welt“ abschirmt. Sie haben einen Ort neben den Fußballergebnissen und der neuesten Politsau, die durchs Twitterdorf getrieben wird. Sie sind nicht allein. Und „wir“ sind nicht gegen sexuelle Gewalt immun. Sie kann überall sein. Auch in Ihrer Familie.

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Heide Oestreich
Inlandsredakteurin
Jahrgang 1968, ist seit langem Redakteurin für Geschlechterpolitik in der taz und im kulturradio vom RBB. Von ihr erschien unter anderem das Buch „Der Kopftuchstreit. Das Abendland und ein Quadratmeter Islam“. 2009 wurde sie mit dem Preis „Der lange Atem“ des Journalistenverbands Berlin Brandenburg für die Berichterstattung über Geschlechterstereotype ausgezeichnet.
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9 Kommentare

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  • J
    Jan_a

    ich bin für die aktion sehr dankbar, und auch dafür, dass taz darüber schreibt (sonst wär ich nicht darauf aufmerksam geworden). die aktion verleiht letztendlich ja nicht nur menschen, die nicht angezeigt haben, eine stimme, sondern hilft auch lesenden, gründe zu erkennen, warum jemand nicht anzeigt. ob aus scham, aus gendergründen, lebensgefahr bei anzeige, ...diese gründe herauszuarbeiten und die situation zu verbessern, anzeigen und strafverfahren leichter für die überlebenden zugänglich zu machen, wird durch solche aktionen möglich. das ist meiner meinung nach einer der wichtigsten pluspunkte für die aktion. die taz hat sich genderneutral geäußert, im gegensatz zu anderen medien wie dem stern. das ist SO wichtig...denn männer, die als jungen oder erwachsene opfer geworden sind, können immernoch nicht sicher sein, nicht einfach ausgelacht zu werden. und frauen als täterinnen sind für viele immernoch etwas undenkbares.

    "folterer". danke, frau oestrich, für das wort! genau das passiert. manchmal im sinne von seelenfolter, die dir "lebenslänglich" (ob im sinne von therapie oder traumafolgen) verpasst, manchmal in dem sinne, wie die meisten menschen "folter" verstehen würden. je brutaler und gefährlicher die täter, desto schwieriger, das schweigen zu brechen und anzuzeigen. jede aktion, die den überlebenden eine stimme verleiht, ist gold wert.

  • IH
    ich habe angezeigt

    Was bei der Aktion bemerkenswert ist eigentlich nicht, dass die Opfer die Stimme erheben. Das tun sie schon sonstwo.

     

    Sondern die Aktion ist sehr bemerkenswert, weil sie webtechnisch so durchdacht und professionell gestaltet ist. Da merkt man, was für einen Unterschied das ausmacht.

     

    Beratungsstellen sind zwar Profi in Sachen Beratung und Infos zum Thema, aber sie sind keine Profis in Sachen Webdesign.

     

    Die Aktion ist auch deswegen sehr bemerkenswert, weil die Opfer hier die Stimme eben nicht extra erheben und schreien müssen, sondern einfach ganz normal "sprechen" können. Für Opfer ist das Thema nämlich normal, für sie gehört das zum Alltag. Sie dürfen das Thema nur nicht im Alltag aussprechen, weil die anderen dann so erschrocken und abwehrend reagieren. Man wird komisch angeguckt. (Hinzu kommt, dass es in der Realität zu jedem Opfer ja auch immer einen Täter gibt, beide mit Realnamen, und da fängt das Ganze ja, schmutzig zu werden.) Und weil das Umfeld so abwehrend reagiert, müssen Opfer schreien, wenn sie nicht schweigen wollen. Aber eigentlich wollen sie nur normal sprechen, wie wenn man über Wetter unterhält.

     

    Die Aktion ist deshalb angenehm, weil sie nicht sagt, wie schrecklich solches Verbrechen ist, sondern wie normal sowas ist. Das ist für Opfer befreiend.

     

    @Marina

     

    Ich bin Opfer und fühle mich durch den Artikel nicht verhöhnt.

     

    Ich finde, der Artikel ergänzt die Aktion sogar ganz gut. Ich selbst habe angezeigt, aber das Verfahren wurde eingestellt.

     

    @Meike

     

    Ich als weibliches Vergewaltigungsopfer werde bei Missbrauchsberatungsstellen nicht beraten, da nicht als Kind missbraucht sondern als Erwachsene vergewaltigt. Ich bin eigentlich kein Fan von Feminismus. Aber wo findet man als Vergewaltigungsopfer sonst Hilfe als bei Frauenberatungsstellen? Geschlechtsneutrale Stellen interessieren sich eben nicht für das Thema Vergewaltigung, höchstens für das Thema Kindesmissbrauch.

     

    @Bachsau

     

    Die Einträge auf der Webseite taten mir gut, denn sie sind viel authentischer und ehrlicher als die "Opferstimmen" auf dem Faltblatt. Da merkt man als Opfer, dass man nicht allein ist (Auf dem Faltblatt werden eher "politisch korrekte" Stimmen abgedruckt - die Beratungsstellen müssen ja die Bürger aufklären, dass eine solche Tat ein schreckliches Verbrechen ist und keine Bagatelle. Und auch diese Aufklärung ist ja wichtig).

     

    Es ist bei der Aktion also nicht so, dass die Opfer, die noch nie bei einer Beratungsstelle war oder Faltblätter gelesen haben, das erste Mal trauen, sich zu äußern. Sondern man merkt, dass viele sich schon sehr viel mit dem Thema auseinandergesetzt haben und nun endlich ohne Angst sagen können, dass sie sich schuldig fühlten (wie oft bekommt man zu hören, dass wenn man sich schuldig fühlt, da was dran sein muss?). Und sie können ganz neutral und wertungsfrei "ich habe nicht angezeigt" sagen (wie oft hört man "warum zeigst Du nicht an, wenn er das tatsächlich getan hat" oder "tue ihm und uns das nicht an")

  • M
    mik

    den faltblattvergleich kann ich sehr gut nachvollziehen. während ich diese oft ungelesen beiseite lege habe ich mir die facebook kommentare beinah komplett durchgelesen. eine wirklich gut durchdachte aktion an der sich erstaunlich viele frauen und männer beteiligt haben.

    letztendlich ist das medienecho, dass diese aktion hervorgerufen hat vor allem sinnvoll weil es die dunkelziffer der tatsächlichen vergewaltigungen (in deutschland) ansatzweise skizziert. und die ist bei über 900 kommentaren (wohlgemerkt von menschen, die von der aktion wissen und sich trauten sich zu beteiligen) in einem guten monat anscheinend erschreckend hoch.

  • AO
    Angelika Oetken

    Eine sehr gute Aktion, toll organisiert, mit wachsendem Zuspruch.

    Leider ist sie nicht so eindeutig an Frauen und Männer gerichtet, wie es sinnvoll wäre.

    Dass Frauen übergriffig, also Täterinnen sein können ist nämlich noch genauso mit einem strengen Tabu belegt, wie die Tatsache, dass Jungen jeglichen Alters zu Opfern werden.

    Hier wirken überkommene, geschlechtsspezifische Klischees leider noch zu stark, als dass wir uns kollektiv ausreichend der Realität nähern könnten.

     

    Ansonsten möchte ich alle diejenigen, die unmittelbar oder auch mittelbar an den Folgen sexualisierter Übergriffe laborieren ermutigen, sich über Beiträge mit Hilfe des Mediums "Internet" an die Öffentlichkeit zu wenden.

    Ob anonym oder mit Klarnamen: jeder Kommentar, jede Geschichte hilft, unsere Gesellschaft ein wenig gesünder zu machen.

    Anerkennen was ist.

     

    Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, Betroffene sexualisierter Misshandlung in der Kindheit

  • B
    Bachsau

    Im Internet scheint immer alles so leicht, aber wie wenig viele Menschen verstehen zeigt sich dann wieder an Kommentaren wie dem von @Meike.

     

    Es ist zwar gut, dass drüber gesprochen wird, aber dass ein paar Twitter-Kommentare mit den Lesern mehr machen können, als ein Faltblatt, daran glaube ich nicht.

     

    Niemand, der nicht wirklich einmal hingesehen, und sich persönlich mit den Betroffenen befasst hat, wird das je verstehen.

  • K
    kerika

    @Marina: Wenn du dich schon so schrecklich aufregen musst über diesen guten Artikel, dann bitte mit richtiger Rechtschreibung, Grammatik und Satzstellung!

    Dein Kommentar liest sich schlecht, der Artikel nicht!

    Abgesehen von deiner völlig unlogischen Scheinargumentierung....

    Ich bin "Opfer" und fühle mich von diesem Artikel in keinster Weise verhöhnt.

    Dein letzter, sinnfreier Satz ist beleidigend,finde ich. Denk lieber das nächste Mal nach, bevor du so spontan totalen Unsinn schreibst! Bitte!

  • M
    Meike

    "Und „wir“ sind nicht gegen sexuelle Gewalt immun. Sie kann überall sein. Auch in Ihrer Familie." - das ist korrekt. Wichtig wäre allerdings die Erkenntnis, dass ziemlich genau 51 % aller Sexualstraftaten von Frauen begangen werden - jedoch werden diese nahezu niemals angezeigt, Männer, die als Kinder von ihren Müttern missbraucht wurden, werden als schwach dargestellt.

     

    Seiten wie die hier dargestellte mögen sinnvoll sein, allerdings können Frauen, die sich selber immer so gerne als Opfer sehen, bereits auf eine unüberschaubare Palette von Hilfsangeboten zurückgreifen, Männer werden hier entweder pauschal als Täter hingestellt bzw. gar nicht als Opfer in Erwägung gezogen. Eine seltsame Entwicklung, die aber ja von militant-feministischen Zeitungen wie der taz gewünscht ist.

  • B
    bine

    @marina, irgendwie scheine ich einen anderen artikel zu lesen. ich kann es mir ansonsten nicht erklären, worauf du dich beziehst.

     

    @liebe heide oestreich, danke :-)

  • M
    Marina

    Ein köstlicher Kommentar, zum Kringeln. Selten so erfrischend laut und herzlich gelacht, danke taz - also hätte ess die Fälle DSK, Andreas Türk und Kachelmann nie gegeben, werden hier weiter alle Männer und alle Frauen als gut dargestellt. Herrlich, so richtig zum Knuddeln, diese sympathische Redakteurin - oder gilt das heutzutage schon als sexuelle Gewalt, wenn man diesen von einer Frau geschriebenen Artikel einfach nur dumm findet?

     

    Schlimm, dass die wirklichen Opfer sexueller Artikel durch solche peinlichen Artikel der Lächerlichkeit preis gegeben werden - da der Artikel so schlecht und dumm geschrieben, dass das eigentlich nicht ernst gemeint sein kann, gehe ich davon, dass der Artikel bewusst die Opfer sexueller Gewalt verhöhnen soll. Und das ist dann eigentlich doch nicht so richtig zum Lachen, sondern sehr schlimm.

     

    Taz, schäm Dich wegen diesem ekelerregenden Artikel.