Kommentar Streit Ökonomen: Das Ende der Wahrheiten
Auch für die Politik ist es heilsam, die Volkswirte im totalen Streit zu erleben. Denn bisher wurde allzu sehr auf die Expertokratie gesetzt.
E ndlich! Die Zunft der Volkswirte streitet sich mit voller Wucht und in allen Medien. Das ist heilsam für Deutschland. Denn damit erledigt sich das gern gehegte Selbstbild der Ökonomen, sie würden eine Art Naturwissenschaft betreiben, die „Wahrheiten“ zu verkünden hat. Stattdessen zeigt der Streit, wohin die Ökonomie gehört: Sie ist eine Sozialwissenschaft, die stets mehrere Interpretationen für das gleiche Phänomen liefert.
Diese Einsicht ist wichtig. Denn damit wird offenbar, was hinter all den mathematischen Formeln und der naturgesetzlichen Scheinobjektivität stets verborgen werden sollte: Volkswirtschaftliche Theorien sind immer von Interessen geleitet. Sie sind ein Teil im Kampf um Macht – und um die Verteilung von Einkommen.
Der neue Streit unter den Ökonomen zeigt aber auch, dass die Eurokrise alte Gewissheiten hinwegspült. Vor allem bei einigen Neoklassikern – oft auch Neoliberale genannt – scheint die Erkenntnis zu wachsen, dass ihre geliebte Theorie vom rationalen Markt nicht weit trägt. Also finden sie sich plötzlich bei den Neokeynesianern wieder und verlangen ein Eingreifen des Staates, um den Bankensektor zu sanieren.
Auch für die Politik ist es heilsam, die Volkswirte im totalen Streit zu erleben. Denn bisher wurde allzu sehr auf die Expertokratie gesetzt. Doch wenn von dort so offensichtlich keine „Wahrheiten“ zu erwarten sind, dann gilt wieder das Primat der Politik.
Dies ist keine neue Erfahrung: Auch nach der ersten Weltwirtschaftskrise ab 1929 ergingen sich die Ökonomen im Dauerstreit. Es war daher eine politische Entscheidung des US-Präsidenten Roosevelt, es mit dem „New Deal“ zu versuchen. Wie man im Rückblick weiß: Dieses Experiment ist geglückt.
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