Kommentar Sicherungsverwahrung: Nachhilfe in liberalem Recht
Das Verfassungsgericht erachtet das gesamte Recht zur Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig. Das ist eine Nachhilfestunde in liberaler Rechtspolitik.
B ERLIN taz Mit einer so weitreichenden Entscheidung hat niemand gerechnet. Das Bundesverfassungsgericht hat das gesamte Recht der Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt. Es ist zwar auch in Zukunft möglich, dass hochgefährliche Strafgefangene nach Verbüßung der Strafe hinter Gitter (nicht: im Gefängnis) bleiben müssen. Doch das Recht der Sicherungsverwahrung muss völlig neu geregelt werden.
Das ist ein herber Dämpfer für Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Die von ihr als großer Wurf gefeierte Reform der Sicherungsverwahrung, die erst Anfang diesen Jahres in Kraft getreten ist, wurde von den Verfassungsrichtern gleich wieder versenkt.
Was bisher nur halbherzig war, soll jetzt konsequent umgesetzt werden, fordern die Richter. Die Sicherungsverwahrung soll letztes Mittel sein und so schnell wie möglich enden. Deshalb sollen Verwahrte, zum Beispiel, einen Anspruch auf Vollzugslockerungen (zum Beispiel begleitete Ausgänge) bekommen.
CHRISTIAN RATH ist rechtspolitischer Korrespondent der taz. Er lebt und arbeitet in Freiburg.
Nur so können sie sich erproben und zeigen, dass eine Entlassung möglich ist. Was sich Leutheusser-Schnarrenberger - zur Vermeidung von Risiken oder aus Rücksicht auf die Union - nicht getraut hat, schreibt das Bundesverfassungsgericht nun vor. Das Urteil ist insofern eine Nachhilfestunde in liberaler Rechtspolitik.
Zugleich ist das Karlsruher Urteil ein Friedensangebot an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Karlsruhe hat seine eigene Rechtsprechung korrigiert und beanstandet jetzt (wie Straßburg) die jüngsten Reformen der Sicherungsverwahrung, insbesondere die rückwirkende Verlängerung über zehn Jahre hinaus.
Dass die Betroffenen nicht sofort entlassen (oder in die Psychiatrie überführt) werden müssen, verstößt zwar gegen die Straßburger Regeln, sollte als Kompromiss aber auch für den Straßburger Gerichtshof akzeptabel sein. Karlsruhe hat sich jedenfalls viel mehr bewegt.
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