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Kommentar SPDDie große Fliehkraft

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Die SPD hat ihre personelle Krise schnell gemeistert. Aber die Große Koalition wirkt nun brüchiger als zuvor.

Bild: taz

STEFAN REINECKE ist Autor der taz. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der SPD.

Bei der SPD scheinen der abrupte Rücktritt und die unvorhergesehene politische Wende zur Gewohnheit zu werden. Franz Münteferings Abgang fügt sich in eine erstaunliche Reihe von Ad-hoc-Entscheidungen. Schröder verblüffte die konsternierte Partei erst mit der Agenda 2010, später mit dem Neuwahl-Putsch. Dann quittierten Müntefering und Matthias Platzeck den Job des Parteichefs. Das Tempo, mit dem in der SPD Posten aufgegeben werden, zeigt, wie uneins die Partei mit sich selbst ist. Verlass ist bei den Sozialdemokraten nur auf das Unerwartete.

Und jetzt? Ist dieser Rücktritt gut für die SPD? Oder ein Problem für die große Koalition, deren Raison dêtre niemand so verkörperte wie Müntefering? Oder bleibt alles, wie es ist?

Kurt Beck war klug genug, auf die Posten des Arbeitsministers und des Vizekanzlers zu verzichten. Damit hätte er seine Macht enorm vergrößert - und sein politisches Kapital verbrannt. Die zaghaften Versuche, die SPD aus dem Korsett der Agenda 2010 zu befreien, hätte der Vizekanzler Beck einstellen müssen. Die Partei hätte sich unversehens in der Rolle wiedergefunden, die sie in der Schröder-Ära hatte: als Anhängsel der Regierung.

Deshalb ist Frank-Walter Steinmeier als Vizekanzler die logische Wahl. Das Flügelspiel, das Beck (als "Traditionalist") und Müntefering (als "Reformer") ausbalanciert hatten, wird auch mit Steinmeier funktionieren, der immerhin der Erfinder der Agenda 2010 ist. Und mit Merkel kann Steinmeier eigentlich auch. An mieser Stimmung oder persönlichen Aversionen wird diese Koalition nicht zugrunde gehen.

Die SPD hat die personelle Krise effektiv und schnell gelöst. Die große Koalition regiert. Sie ist handlungsfähig, noch immer. Aber sie wirkt brüchiger als je zuvor. Denn Münteferings Rücktritt zeigt auch, dass die SPD begriffen hat, dass sie gegen Merkel den Mindestlohn nicht durchsetzen wird. Die SPD braucht den Mindestlohn, schon um ihr Image als Anwalt der kleinen Leute aufzupolieren. Der Mindestlohn war ein zentrales Ziel von Müntefering - und klar ist, dass Olaf Scholz nicht gelingen wird, woran Müntefering scheiterte. Die Fliehkräfte, die diese Koalition zerreißen werden, sind seit gestern unübersehbar geworden.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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