Kommentar Reisewarnung und Reaktion: Viel Feind, viel Ehr, viel Irrsinn
Nach Ankara ist jetzt auch Berlin mit Chauvinismus infiziert. Der Heilungsprozess ist langwierig. Wirkt die Bundestagswahl lindernd?
C hauvinismus ist eine ansteckende und gefährliche Krankheit. Sie wird nicht über Körperkontakt oder den Atem (Tröpfcheninfektion) übertragen, sondern durch die Verbreitung von hohlem nationalistischem Geschwätz.
Studien beschreiben die Krankheit als eine verbale Überhitzung, verbunden mit plötzlicher Schnappatmung bei der Beleidigung ganzer Nationen. Bei Begriffen wie „Ehre“ oder „Stolz“ droht eine Einschränkung kognitiven Verhaltens bis hin zu schwerwiegenden Bewusstseinsstörungen. Bei einer Übertragung auf Teile der Bevölkerung sind körperliche Auseinandersetzungen eine Folge, die häufig mit Fäusten, Flaschen oder Artilleriegeschützen ausgetragen werden.
Wie hoch das Ansteckungsrisiko von Chauvinismus auch über mehr als tausend Kilometer hinweg ist, zeigen jüngste Äußerungen deutscher Politiker auf Erklärungen eines türkischen Staatsoberhauptes. Nachdem dieser gehäuft Stolz und Ehre seiner Nation beschworen hat und dazu vermehrt unschuldige deutsche Staatsbürger einsperren ließ, ist die Chauvinismus-Infektion – wie von Ankara gewünscht – nun nach Berlin übergesprungen.
Betroffen ist etwa ein Kanzleramtschef (CDU), der „klipp und klar“ sagte: „Auch Deutschland hat eine Ehre.“ Ein Kanzlerkandidat (SPD) hat erklärt: „Deutschland ist kein Land, das jede Demütigung akzeptieren kann.“ Ein Justizminister (SPD) sprach davon, dass Deutschland nun „die Samthandschuhe“ ausziehen müsse. Die ärztliche Schweigepflicht verbietet uns, hier Namen zu nennen.
Der Heilungsprozess von Chauvinismus-Infizierten ist langwierig. Häufig hilft nur eine totale Isolation des Erkrankten. Rationalen Argumenten ist der Infizierte nur sehr beschränkt zugänglich. Wird etwa darauf hingewiesen, dass nur natürliche Personen über „Ehre“ verfügen können, nicht aber ganze Staaten, argumentiert man gar, dass man ein Volk schlecht demütigen kann, so folgen darauf typischerweise Ausflüchte oder der Hinweis, man habe gerade verstopfte Ohren.
Hilfreich zur Bekämpfung des Chauvinismus kann neben dem Entzug des Milchgetränks Ayran und von Alkohol in jeglicher Form eine bevorstehende Bundestagswahl sein, nach der sich die Erkrankten häufig erstaunlich rasch wieder erholen. Sicher ist das aber nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen