Kommentar Polen: Pragmatisch distanziert
Der Mythos von den Polen als Opfer wird von einem neuen polnischen Selbstbewußtsein überwunden.
Das polnisch-deutsche Verhältnis entspannt sich dieser Tage. Auf der staatlichen Ebene agieren die Verantwortlichen pragmatisch oder wahren freundliche Distanz, wo derzeit keine Einigung erreicht werden kann. In diesem Sinne kann das von der deutschen Regierung getragene, den Vertreibungen der Deutschen aus dem Osten gewidmete "Sichtbare Zeichen" in Berlin nicht auf die offizielle Mitwirkung der polnischen Seite zählen, wird aber von ihr auch nicht bekämpft. Die Deutschen wiederum werden sich am Ausbau von Erinnerungsorten und Museen beteiligen, in denen den Freiheitskämpfern und dem Leiden der polnischen Nation gedacht wird.
Mitschuld an der so lange vergifteten Atmosphäre der polnisch-deutschen Beziehungen trägt die Bundesregierung, weil sie das "Zentrum gegen Vertreibungen" des Bundes der Vertriebenen staatlich unterstützte und die Diskussion über das Projekt nicht der Gesellschaft überließ. Dass das "Sichtbare Zeichen" sich an die Ausstellung des Bonner Hauses der Geschichte anschließen soll, ist akzeptabel. Doch das "Sichtbare Zeichen" trägt auch deutlich die Spuren eines Kompromisses mit dem Bund der Vertriebenen.
Es wird jedoch noch eine ganze Weile dauern, bis bei politischen Unterhaltungen polnischerseits gefragt wird: "Wer bitte war noch mal Erika Steinbach?" Zu effektiv war die Angstmache, die Stilisierung der Vertriebenen-Vorsitzenden zum "Gott-sei-bei-uns". Und zu wirksam war bislang auch der Mythos, der Polen zum ausgesuchten Opfer stilisiert, das zu keiner Untat fähig gewesen ist. Dieser Mythos immerhin wird allmählich durch ein neues polnisches Selbstbewusstsein überwunden, das geschichtspolitische Anerkennungskämpfe nicht mehr nötig hat.
Wahr für die deutsche Deutung muss bleiben: eine angemessene Sicht des deutschen Vertriebenenschicksals kann nur im Kontext der deutschen Vorgeschichte geschehen. Dies festzustellen, gebietet nicht Rücksicht auf polnische Interessen, sondern unser eigenes Interesse an einem kritischen Geschichtsbewusstsein. CHRISTIAN SEMLER
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