Kommentar Piratenparteitag: Zeit für ein Klischee 2.0
Auf dem Bundesparteitag ließen die Piraten nicht viel von den Vorurteilen übrig, die man gegen sie haben kann. Im Gegenteil: Sie zeigen sich professionell und pragmatisch.
P räzise eingehaltene Redezeiten, routinierte Amtsbesetzungen, dezent dosiert Ironie und dann auch noch ein klares Statement gegen Rechts - es ist ja schon fast eine Nachricht für sich, dass der Piratenparteitag am Wochenende ohne Skandale, trolliges Gehabe und die viel gescholtenen Nerds, die inzwischen ganz Deutschland zu kennen meint, über die Bühne gegangen ist. In Neumünster ist die versammelte Journaille an ihrer Projektion gescheitert. Es ist Zeit, endlich Abschied von billigen Klischees zu nehmen.
Was wurde in den letzten Wochen nicht alles an Ihnen zerrissen. Wie Vasallen der etablierten Parteien widmeten viele Journalisten jedem noch so kleinen Anekdötchen ganze Abhandlungen über die Abgründe der aufstrebenden Partei. Und wegen einzelner Spinner, gegen die stets rasch und deutlich Position bezogen wurde, konnten die Piraten fast als neue rechtspopulistische Gefahr erscheinen.
Nichts davon blieb beim Bundesparteitag übrig, im Gegenteil: Der Pragamatismus der Piraten muss einem fast Sorge bereiten. Denn obwohl die selbsternannten Modernisierer der Nation antreten, um alles anders zu machen, gaben sich die Piraten am Wochenende annähernd so professionell und pragmatisch wie ihre politische Konkurrenz.
ist taz-Redakteur für Politik von unten und twittert unter @martinkaul.
Natürlich: Manch schwarze Augenklappe und mancher Störtebecker-Hut kultiviert den rebellischen Pathos, von dem die Partei lebt - aber damit vermittelt sich in erster Linie ein nur mittelmäßig aufwieglerisches Lebensgefühl, das noch nichts über den Chaosgrad der Nachwuchspartei aussagt. Für alle, die auch weiterhin ignorieren wollen, mit welchen Inhalten die Partei als politische Konkurrenz antritt, gilt deshalb: Es wird Zeit für ein Klischee 2.0.
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