Kommentar Pflegereform: Auf den kleinsten Nenner runtergekocht
Die Pflegereform ist typisch für die große Koalition, man einigt sich auf das Kleinste. Und die Kosten werden ganz unsozialdemokratisch auf die Abgabepflichtigen abgewälzt.
Mit der Pflegeversicherung hat Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) ein Glanzstück hingelegt. Freilich nicht so sehr, was die Inhalte der Reform betrifft, sondern in Sachen Politikvermittlung. Sie kann sich nach der Einigung im Kabinett in dem Ruf sonnen, eine Ministerin mit Herz zu sein, die sozialdemokratische Ideen vehement verteidigt und eine Reform mit Hand und Fuß vorgelegt hat.
Die Union hat wider Willen kräftig zu diesem Image beigetragen. Sie sperrte sich gegen Schmidts Vorschlag, Arbeitnehmern 10 Tage bezahlte Pflege-Auszeit zu gewähren, und gerierte sich so als kleinliche Arbeitgeberfreundin, der die Sorgen der Menschen egal sind. Der von Ulla Schmidt wortgewaltig ausgetragene Streit um 10 bezahlte Pflegetage bemäntelt erfolgreich, dass sie und die SPD bei anderen strittigen Punkten kleinlaut beigegeben haben.
Beiseitegelegt wurde der im Koalitionsvertrag vereinbarte Ablass der privaten Pflegekassen an die gesetzlichen. Da die gesetzlichen Kassen einen weitaus höheren Anteil von Pflegebedürftigen zu versorgen haben, hatte die SPD zu Recht einen finanziellen Ausgleich gefordert. Den kippte die Union und verzichtete dafür auf ihre Forderung nach einer privaten Zusatzprämie. So wurde der großkoalitionäre Friede gewahrt.
Die Verbesserungen, die die Pflegereform bringt, sind zweifellos richtig und wichtig. Sie tragen aber keine genuin sozialdemokratische Handschrift. Auch die Union hatte gefordert, dass Pflegeleistungen nach 12 Jahren endlich an die allgemeine Preissteigerung angepasst werden müssen und Demenzkranke einen Anspruch auf Pflegeleistungen haben.
Umstritten war nur, wer das bezahlt. Die Einigung auf eine Beitragserhöhung ist so bequem wie kurzsichtig. Die Mehrkosten für eine alternde Gesellschaft werden nämlich mal wieder allein den abgabepflichtigen Arbeitnehmern aufgehalst.
Insofern ist die Reform ein Werk ohne Fundament und ein typisches Produkt der großen Koalition: Man einigt sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und verschiebt Strittiges auf die nächste Legislaturperiode. In der verführerischen Hoffnung, dann allein zu regieren. ANNA LEHMANN
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