Kommentar Odenwaldschulen-Skandal: Kritische Nähe
Der Skandal an der Odenwaldschule ist ein Lehrstück. Schade, dass die Reformpädagogik diese Diskussion nicht angenommen hat.
D er Skandal an der Odenwaldschule ist ein Lehrstück. Die Reformpädagogik kann nicht so tun, als ginge sie der moralische Bankrott dieses Eliteinternats nichts an. Immerhin wollte die Odenwaldschule immer ein Vorbild sein. Aber ihr Leiter Gerold Becker, ein Popstar seiner Zunft, hat dort ihre Grundidee auf den Kopf gestellt - besonderen Respekt vor dem Kind kehrte er in brutale Ausnutzung um.
Becker hat die Reformpädagogik damit ins Mark getroffen. Erst eichte er das pädagogische Programm der Schule auf die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler um; kein Wort mehr über Schule oder Lernen. Unter Becker gab es an der Schule bezeichnenderweise zwei Fraktionen: seine "Kinderfreunde" - und die lästigen "Faschisten", die verlässlich Schule machen wollten. Becker räumte sie zur Seite, um danach als Oberhaupt seiner Internatsfamilie freie Fahrt zu haben, seine sexuellen Interessen zu verfolgen. Becker beutete Jungs zwischen 12 und 14 Jahren aus. Das heißt, er griff Jungs in ihrer wichtigsten Entwicklungsphase zwischen die Beine. Das hat mit jener Integrität, die der Pädagoge fleißig predigte, gar nichts zu tun: Es ist ein Verbrechen.
Gerold Becker hat nicht nur Jugendliche, sondern auch die Reformpädagogik für seine Zwecke missbraucht. Natürlich bedeutet "Nähe zum Kind" unter den hermetischen Bedingungen eines Internats am Waldesrand etwas anderes als im Alltag von Reformschulen im Kiez. Dennoch muss die "Pädagogik vom Kinde aus" nun beweisen, dass sie bestimmte Grenzen nicht überschreitet. Dazu gehört ein hohes Ethos der Lehrer genauso wie Kontrolle durch Kollegen und Schule. Sonst wird Nähe kritisch.
Christian Füller ist Bildungs-Redakteur der taz.
Schade, dass die Reformpädagogik diese Diskussion nicht angenommen hat. Denn wir brauchen sie dringend, um Alternativen zur kalten Staatsschule aufzuzeigen.
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