Kommentar Migration und Arbeitsmarkt: Ausweg Selbstständigkeit
Dass Migranten sich selbstständig machen und damit Jobs schaffen, hat oft nur einen Grund: Sie haben keine andere Wahl.
K lischees haben einen Grund. Änderungsschneidereien sind in türkischer Hand, Asiaten findet man im Blumenhandel, polnische Selbstständige arbeiten auf dem Bau. Eine Bertelsmann-Studie weist nach, dass der Anteil der Selbstständigen mit Migrationshintergrund in Handel und Gastgewerbe zurückgeht, aber er bleibt hoch. Warum das so ist, könnte wichtig sein für die Frage, wie sich Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt einfinden.
Migranten, auch neu eingereiste, gehen häufig in Bereiche, in denen man keine formale deutsche Berufsausbildung braucht. Dort ist auch kein Meisterbrief nötig, um einen Laden aufzumachen. Weil sie zwar das Können, aber nicht den Gesellen- oder Meisterbrief haben, arbeiten etwa zugewanderte erfahrene Schneider nur als „Änderungsschneider“, versierte Bauhandwerker als „Fliesenleger“ und Köche machen Restaurants auf.
„Ethnic Entrepreneurship“ ist ein Kompromiss des eigenen Könnens mit den Bedingungen im Ankunftsland. Dabei bilden sich Communitys, über die häufig auch die Jobvergabe läuft. Vielleicht werden syrische oder irakische Flüchtlinge verstärkt in der Schnellgastronomie, bei Zustelldiensten, in Sicherheitsfirmen und Transportdiensten tätig sein – ein wenig zeichnet sich das schon ab. Für solche Jobs braucht man keine lange Berufsausbildung, die einen langen Vorlauf, sehr gute Deutschkenntnisse und den jahrelangen Verzicht auf ein Mindestlohneinkommen erfordert.
Die Industrie, die allenthalben eine „Fachkräftelücke“ beklagt, die es zügig zu füllen gelte, dürfte diesen Trend bedauern. Aber vielleicht müssen wir unsere Maßstäbe von Qualifikation relativieren. In den meisten Teilen der Welt herrscht eine Ökonomie ohne Zertifikate, die auf den unmittelbaren Bedarf setzt, auf Risikobereitschaft, Improvisation, Verdienstmöglichkeit. Es ist auch eine Art von Globalisierung, wenn diese Tatsache durch die neu Eingereisten in Deutschland sichtbar wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt