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Kommentar KindstötungenUnsere Kinder

Daniel Bax
Kommentar von Daniel Bax

Nach spektakulären Kindstötungen verfallen viele in naheliegende Erklärungsversuche. Doch die greifen immer zu kurz.

S chon wieder machen Fälle von mehrfachen Kindstötungen Schlagzeilen. Im sächsischen Plauen soll eine Mutter drei ihrer Babys kurz nach der Geburt umgebracht haben. Die Polizei fand die Leichen in einem Koffer, auf einem Balkon und in einer Tiefkühltruhe. Im schleswig-holsteinischen Darry hat eine alleinstehende Mutter vorgestern ihre fünf Söhne getötet. Offenbar, so heißt es heute, litt sie an einer psychischen Störung.

taz

Daniel Bax, 37, ist taz-Meinungsredakteur.

Wie immer nach solchen Taten wird nach Erklärungen gesucht. Die Tat in Plauen erinnert an den Fall in Frankfurt an der Oder, der vor zwei Jahren die Republik erschütterte. Dort hatte eine Mutter neun ihrer Kinder kurz nach der Geburt umgebracht und die Leichen jahrelang auf ihrem Balkon versteckt. Damals machte Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm "die von der SED erzwungene Proletarisierung" des Ostens für solche Vorfälle verantwortlich; nach lautstarkem Protest entschuldigte er sich. Andere, wie der Hallenser Psychologe Hans-Joachim Maaz, wiesen auf die Erfahrung des Nachwende-Umbruchs in Ostdeutschland hin, die viele Menschen überfordert habe.

Kulturelle Erklärungsmuster werden auch gerne herangezogen, wenn es um "Ehrenmorde" an Töchtern in Einwandererfamilien geht. Doch worauf verweist dann die Häufung spektakulärer Kindstötungen in deutschen Problemfamilien? Was erklärt die mörderische Verwahrlosung, der Kinder, wie etwa die siebenjährige Jessica, die 2005 in Hamburg verhungerte, der zweijährige Kevin, der in Bremen in einem Kühlschrank gefunden wurde, oder zuletzt die verhungerte Lea-Sophie in Schwerin, zum Opfer fielen? Sind diese Kinder Kollateralschäden einer individualisierten Gesellschaft, der es einfach an Familiensinn fehlt, wie manch schlicht gestrickte Konservative meinen?

Die aktuellen Fälle zeigen, dass monokausale Erklärungsmuster stets zu kurz greifen. Sicher haben Fälle wie der jetzt in Plauen mit der sozialen Realität in abgehängten Regionen zu tun. Und sicher sagen die traurigen Tode von Jessica, Kevin und Lea-Sophie viel über die prekäre Lage in Hochhaussiedlungen am Rande deutscher Großstädte aus. Doch das allein erklärt noch nichts. Es bleibt bei solchen Taten stets ein Rest Unbegreifliches.

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Daniel Bax
Redakteur
Daniel Bax ist Redakteur im Regieressort der taz. Er wurde 1970 in Blumenau (Brasilien) geboren und ist seit fast 40 Jahren in Berlin zu Hause, hat Publizistik und Islamwissenschaft studiert und viele Länder des Nahen Ostens bereist. Er schreibt über Politik, Kultur und Gesellschaft in Deutschland und anderswo, mit Fokus auf Migrations- und Religionsthemen sowie auf Medien und Meinungsfreiheit. Er ist Mitglied im Vorstand der Neuen deutschen Medienmacher:innen (NdM) und im Beirat von CLAIM – Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit. Er hat bisher zwei Bücher veröffentlicht: “Angst ums Abendland” (2015) über antimuslimischen Rassismus und “Die Volksverführer“ (2018) über den Trend zum Rechtspopulismus. Für die taz schreibt er derzeit viel über aktuelle Nahost-Debatten und das neue "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW).”

3 Kommentare

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  • G
    Gabriela

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    Ein starkes Unbehagen bleibt zurück, und Verwunderung über die unglaubliche emotionale Starrheit und gnadenlose Verdrängung der tatsächlichen Ursachen.

    Stattdessen gefallen sich die Psychologen und Redakteure in der Rolle des Gewissens.

    Menschen mit emotionalen Erkrankungen und ihre persönlichen Dramen, werden von den Medien benutzt, und die herrschende Lieblosigkeit dieses gesellschftlichen Systems nur noch unterstrichen.

    Neben der anklagenden Forderung nach Überprüfung des Mutterbildes, was sicherlich ein allgemein gesellschaftliches Thema ist, und des Herumgrabens in den Tiefen des Unbewußten, was als Erklärungsversuch ebenfalls von Bedeutung ist, gibt es noch ein ganz anderes Unbehagen, das die deutsche Seele zu belasten scheint, und mit aller psychologischen und intellektuellen Macht verdrängt wird, die Geringschätzung des Gefühls und deren Bedeutung für das tägliche Leben.

    Liebe als Basis eines Lebens ist Hoffnung und Zukunft.

    Sorgen, Enge, Depression, Unverständnis, Egoismus, die Tendenz zu negativen Schuldzuweisungen und ein ständiges Unbehagen, schüren Angst und sind der Boden für ein kränkendes Leben, ohne Hoffnung.

    Die Extremfälle sind die Tötungen.

    Für mich sind die Mütter nicht in erster Linie, die starken Mütter der Mythologie, die ihre Kinder aus starken Emotionen heraus töteten.

    Es sind schwache, vergessene Töchter von ebenfalls gestörten Müttern, deren Leben ein Überleben war!

    Ihr mythologischer Aspekt findet seinen Ausdruck in der Tat, aus tiefster realer innerer Not, und besagt, dass Unterdrückung zwecklos ist. Ohne Sinn.

    Psychische Krankheit ist das Symptom auf diesen Mißstand.

    Ich empfinde starke Mitbetroffenheit, Angesichts der Ratlosigkeit, Ohnmacht und Hilflosigkeit, die sichtbar werden in der öffentlichen Debatte um solche Themen.

    Und Hoffnung.

    Ein massiver Entwicklungskomplex, der die gesamte Gesellschaft betrifft, wie ich glaube.

    Das Bild einer beginnenden Emanzipation.

     

    Ein starkes Jahr 2008!

  • A
    Alster

    Perspektivlosigkeit und Selbstmitleid scheint der

    Hauptgrund für die Zunahme von Kindestötungen zu sein. Der Mensch ist schlecht und das jeden Tag.

    Nur wurde dass nie so sehr verbreitet wie in der heutigen Zeit. Wir sind alle schuld. Die Geldgier, die verlogene Politik die Beamtenwillkür, die Bilder der Schlechtigkeiten

    in den Medien. Viele Menschen verkraften das nicht mehr in einer seelenlosen Welt zu leben.

    Es hat immer solche Fälle gegeben- aber nicht im

    diesem Ausmaß-, sieht man mal von den Kindesopfern an den Moloch ab. Bei falschen Göttern sind zuerst die Kinder die Leidtragenden.

  • K
    Korrekturleser

    Journalistische Kompetenz bedeutet, auch mit den weichen Fakten vertraut zu sein und sie richtig zu benennen. Das Entsetzen um die neun toten Babys, die Minister Schönbohm als Aufhänger zur Polemik gegen Ostdeutschland zu nutzen versuchte, wurden in einer Garage entdeckt, nicht auf einem Balkon. Und, das Drama um den kleinen Kevin spielte sich nicht in Bremen sondern in Cottbus ab. Ihrem Schlußsatz, Herr Meinungsredakteur, stimme ich zu: das Verhalten der Mütter bleibt unbegreiflich.