Kommentar Hessens SPD: Überbewertete Tumulte
Verglichen mit dem Aufruf der SPD-Moralhelden erscheint die Linkspartei, trotz aller Tumulte, geradezu als rational. In der SPD dominieren noch immer Ideologie und Rechthaberei über Pragmatismus.
Stefan Reinecke, 49, lebt in Berlin- Kreuzberg, war früher Redakteur der taz-Meinungsseite und ist seit fünf Jahren Autor der taz. Er beschäftigt sich vor allem mit Innenpolitik, Parteien und Geschichtspolitik.
Die Linkspartei in Hessen kämpft tapfer darum, über die fünf Prozent zu kommen. Die SPD träumt davon, den unerschütterlichen Roland Koch abzulösen, die Grünen feiern sich auf ihrem Parteitag als ökologische Modernisierer. Dieses Szenario kennen wir schon - und doch ist nichts so wie vor einem Jahr, im Dezember 2007.
Damals war der Groll auf Kochs katastrophale Schulpolitik groß und frisch und Andrea Ypsilanti ein unverbrauchtes, neues Gesicht. Jetzt, nach Ypsilantis Scheitern, quälen sich SPD, Grüne und Linkspartei in den Wahlkampf. Der Linkspartei geht es dabei noch relativ gut. Die Partei hat sich unter dem Zwang der Verhältnisse rasant auf Realokurs gebracht. Die Tumulte auf ihrem Parteitag wirken zwar schrill, sind aber wohl Teil des Häutungsprozess, den junge, fundamentaloppositionelle Parteien stets absolvieren. Die Grünen brauchten dafür Jahre, die Linkspartei nur Monate.
Dass die hessischen Grünen auf ihrem Parteitag Tarek Al-Wazir als Ministerpräsidenten ins Gespräch bringen, wirkt verzweifelt. Unverschuldet in das SPD-Chaos hineingeraten, gehen ihre Chancen zu regieren, nun gegen null. Für Rot-Rot-Grün dürfte es nicht reichen; Schwarz-Grün ist mit Koch nur um den Preis der Selbstaufgabe möglich. In Wiesbaden zeigt sich die Zwickmühle, in der die Grünen in einigen Ländern stecken: Die SPD ist schwach, die Union zu reaktionär.
Derweil versucht Thorsten Schäfer-Gümbel tapfer die Wogen zu glätten und zeigt nebenbei, dass auch unbekannt zu sein, ein paradoxer medialer Aufmerksamkeitsgewinn sein kann. Gleichwohl wirken die entfesselten Selbstzerstörungskräfte in der SPD weiter. Eine Hand voll SPD-Rechter fordert, dass Ypsilanti als Parteichefin zurücktritt. Doch ihr Rücktritt jetzt wäre das sicherste Mittel, um die hessische SPD endgültig zu demoralisieren und das letzte Fünkchen Hoffnung auf einen Wahlsieg auszublasen. Verglichen mit dem Aufruf der SPD-Moralhelden erscheint die Linkspartei, trotz aller Tumulte, geradezu als rational. In der SPD dominieren noch immer Ideologie und Rechthaberei über Pragmatismus. So lange das so bleibt, wird aus Rot-Rot-Grün nichts. Nicht nur in Wiesbaden.
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