Kommentar Grass-Geburtstag: Der Schnurrbart des Herrn
Günter Grass ist der vitalste Vertreter eines Autorenmodells, dessen literarische Einfälle und Engagement in der Bundesrepublik beidermaßen gebraucht wurden.
U nter Literaturliebhabern gibt es die Figur des authors author - des Autors, der nur von anderen Autoren gelesen wird, das aber umso intensiver und folgenreicher. Günter Grass ist das genaue Gegenteil davon. Sein Einfluss auf die deutsche Literatur hat nach dem fulminanten Start mit der "Blechtrommel" immer weiter nachgelassen. Aber seine Präsenz in den Medien und seine Wirkmächtigkeit sind gleich geblieben. Selbst die verspätete Beichte der SS-Mitgliedschaft ließ sich noch als große gesellschaftliche Debatte aufziehen.
Es ist üblich, diese Aspekte im Leben und Werk des Günter Grass gegeneinander auszuspielen. Wer von seiner Unvermeidlichkeit und erstaunlichen Selbstgewissheit genervt ist, verweist auf die Bücher: die Sprache zu knarzig, die Handlung kolportagehaft. Wer aber seine Bücher verteidigen will, verweist darauf, dass Grass sich noch immer verlässlich einmischt und Großdebatten auszulösen versteht.
Dabei ist es längst an der Zeit, die beiden Seiten zusammenzudenken. Zu würdigen ist Günter Grass als vitalster Vertreter eines Autorenmodells, dessen literarische Einfälle und dessen Engagement gleichzeitig gebraucht wurden, damit sich die bundesrepublikanische Gesellschaft aus nationalsozialistischen Prägungen herausarbeiten konnte. Nicht nur der rheinische Kapitalismus mit dem Wirtschaftswunder und Adenauer mit seiner Westbindung waren dafür entscheidend, sondern auch die Romane der frühen Bundesrepublik - und der Figur des Deutschlehrers, der sie seinen Schülern in der Nachkriegszeit als praktisch gewordene Entnazifizierung vermittelte, sollte sowieso ein Denkmal gesetzt werden.
Noch bevor die Studentenbewegung den Kampf um die gesellschaftliche Reformierung antrat, haben Grass, Heinrich Böll und auch Magnus Enzensberger für eine Demokratisierung der Literatur gekämpft und gemeinsam den Geistesaristokratismus aus dem Mainstream der deutschsprachigen Literatur vertrieben. Was für eine Leistung! Wahr ist allerdings auch: Grass hat immer noch nicht gemerkt, dass man nicht mehr so heftig auf die Trommel zu hauen braucht, seit diese Zeit der "Deutschstunden" (um einen Roman von Siegfried Lenz zu zitieren) vorbei ist.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links