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Kommentar FrontexDie unsichtbare Mauer

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Europäische Politiker zeigen sich wegen ertrunkener Flüchtlinge betroffen. Doch das ist heuchlerisch. Die Praxis von Frontex ist der beste Beweis.

Ein bulgarischer Grenzpolizist hält Ausschau nach Flüchtlingen. Bild: dpa

W as immer europäische Spitzenpolitiker derzeit zu den Hunderten Toten Flüchtlingen vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa sagen, das meiste davon ist pure Heuchelei. Beweise dafür sind die Weigerung der europäischen Innenminister, die rigide Abschottungspolitik gegenüber den Flüchtlingen auch nur ein wenig aufzuweichen, und die Praxis der europäischen Grenzschutzaggentur Frontex, die im Namen derselben Politiker alles tut, damit möglichst wenig Flüchtlinge Europa erreichen.

Dazu gehört nicht nur, dass Frontex aktiv daran beteiligt ist, Flüchtlinge vor Erreichen europäischen Festlandes teilweise mit Gewalt zur Umkehr zu zwingen, sondern dass es, weit wirksamer noch, gleich dafür sorgt, dass Flüchtlinge erst gar kein Boot besteigen können, um zur europäischen Seite des Mittelmeers aufzubrechen.

Während europäische Politiker Krokodilstränen über ertrunkene Mütter und Kinder vergießen, setzen sie gleichzeitig viel Geld und Personal dafür ein, Geheimdienste, Grenzschützer und Polizisten in sogenannten Drittstaaten zu beraten und aufzurüsten, damit diese potenzielle Flüchtlinge bereits weit vor der EU-Grenze abfangen und zurückschicken. „Vorverlagerung“ heißt das im Jargon.

Nachdem die Abkommen mit Gaddafi und anderen Diktatoren südlich des Mittelmeers hinfällig geworden sind, ist Frontex nun damit beschäftigt, im Auftrag der EU die unsichtbare Mauer wieder aufzubauen.

Doch das ist ja nicht nur das Werk böser Politiker. Die Abschottung Europas ist von der großen Mehrheit der Europäer ja durchaus gewünscht. Die Toten vor Lampedusa mögen einen Augenblick lang ein ungutes Gefühl erzeugen. Doch wenn die jetzt beginnenden Herbststürme am Mittelmeer dafür sorgen werden, dass erst einmal keine weiteren Flüchtlinge kommen können, ist das unschöne Thema schnell wieder vergessen.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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18 Kommentare

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  • Können wir nicht mal damit aufhören, immer von 'aufnehmen' zu sprechen?

    Das klingt so nach hilflosen, gebrechlichen Wesen, die eine Bleibe brauchen und durchgefüttert werden müssen. Das ist es aber genau nicht. Es geht hier um Menschen, die sich mit Arbeit ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen wollen. Leben und leben lassen.

  • KD
    Keine DDR mehr

    Wie viele Menschen aus Ländern der Dritten Welt kann eine erste Welt aufnehmen, bevor es ein Land der Dritten Welt wird?

    • H
      Hans
      @Keine DDR mehr:

      Gibt es ein Recht auf "Erste Welt"? Die "Erste Welt" ist auf der Ausbeutung der "Dritten" und "Zweiten" aufgebaut. So sorgt die Globalisierung für den eigenen Ausgleich.

      • S
        Steffi
        @Hans:

        Völliger Quatsch. Den Entwicklungsländern sind so viele Möglichkeiten gegeben worden, ihre Situation zu ändern, aber ohne Erfolg. Projekte der Entwicklungshilfe, Bildungsarbeit, Wirtschaftsplanung statt Subsistenzwirtschaft - nichts funktioniert. Die Regierungen in afrikanischen Ländern sind noch so auf dem alten Stammes- und Fürstensystem aufgebaut, dass eine Demokratisierung nicht möglich ist. Und nun sollen alle die, die im arbeitsfähigen Alter sind, abwandern und die Ärmsten mit den Reichsten allein lassen?

         

        Im Übrigen wird es immer Staaten geben, denen es besser und denen es schlechter geht.

        • H
          Hans
          @Steffi:

          Ja, und deswegen wird es auch immer Kriege und Flüchtlinge geben.

           

          Woher glauben Sie kommen denn unsere billigen Produkte und Rohstoffe? Wohin verkaufen wir unsere Waffen?

  • U
    Ursula

    Was schlägt der Autor denn vor zur Lösung der Probleme?

    Es geht hier weniger um Flüchtlinge als um Menschenschlepperei als neuee Geschäftsmodell: Im britischen Gurdian stand, dass beim letzten Unglück in Lampedusa ein Tunesier von jedem Insassen 1000 euro kassiert hatte, also insgeamt 500000 für das Boot.

    Die EU MUSS diese Überfahrten verhindern, dann sterben auch keine Menschen. Die Menschen müssen versorgt werden und danach sofort zurückgebracht werden, und zwar alle.

    Die Kritik des Autors erinnert an Kritik an der Polizei- wenn man aber selbs etroffen ist, dann ruft man nach der Polizei.

    Frontex muss ausgebaut und in die Lage versetzt werden wirksam gegen die Überfahrten udn Schlepper vorzugehen.

  • G
    gerstenmeyer

    wird eigentlich betroffenheit bald vorgeschrieben oder ist es jedem selbst überlassen-wo ist die betroffenheit für tausende ermordete christen? das wird bei den medien hier nur mal kurz erwähnt,wenn überhaupt

    • H
      Hans
      @gerstenmeyer:

      1) was haben die Christen nun damit zu tun?

      2) Wo werden die "tausende Christen" ermordet? Links, Belege?

  • TI
    tazächlich ich

    Um weiteres Ertrinken von Flüchtlingen zu stoppen ist doch das Verhindern, Boote zu besteigen, extrem effektiv. Was ist gegen diese Vorverlagerung einzuwenden?

    Geht es den Kritikern wirklich um Menschenleben? Oder wirkt hier lediglich ein knuffiges Helfersyndrom, ohne Sinn und Verstand?

    Und natürlich muß vor Ort mehr geschehen, um das Leid zu minimieren / zu beenden.

    • H
      Hans
      @tazächlich ich:

      Und wie soll das geschehen? Denken Sie bitte daran, dass die von Ihnen für Europa geforderten Grenzen auch für die Staaten in Nordafrika, etc. gelten. An Land und in deren Gewässern hat Frontex keine Befugnis.

  • U
    USSsanAntonio

    ,...sondern dass es, weit wirksamer noch, gleich dafür sorgt, dass Flüchtlinge erst gar kein Boot besteigen können, um zur europäischen Seite des Mittelmeers aufzubrechen.'

     

    Naja, entweder das oder den Grenzschutz komplett einstellen, was in einer nationalstaatlich organisierten Welt ziemlich utopisch ist. ich kann die Leute schon verstehen, vielleicht würde ich an deren Stelle auch nach Europa aufbrechen und dort hin wollen wo ein besseres Leben möglich ist. Andererseits reglementieren alle Staaten dieser Welt inwiefern und wie lange man sie betreten darf und wer nicht. Sie sind eben ihren Bürgern verpflichtet und nur bedingt anderen. Wer dieses Prinzip für Europa ,so selbstverständlich wie hier zu lesen, abschaffen will müsste auch so einige andere Dinge verändern

  • SL
    Statistiken Lesen

    Ähm, also wenn Frontex nicht patroulliert sind die Überfahrten wo Schlepperbanden für horrende Summen auf kaum seetüchtige Schiffe unter falschen Versprechungen Menschen zusammenpferchen also sicherer? Warum glaube ich so Monokausalitäten bloss nicht?

     

    Egal wie man zur "Abschottungspolitik" (die ja eig. keine böse Ausnahme in Europa ist sondern eher gängige Praxis weltweit ist)steht, so sollte man doch den kausalen Zusammenhang, dass die beste Möglichkeit ist Tote im Mittelmeer zu vermeiden ist, diese Leute nicht auf Boote zu lassen.

    • H
      Hans
      @Statistiken Lesen:

      Und wer soll dafür sorgen, dass die "Leute" nicht auf die Boote gelassen werden?

  • T
    Tantris

    Es ist doch klar,wer kein Boot o Schiff betritt,kann auch auch keinenSchiffbruch erleiden u.ergodessen auch nicht ertrinken.

    Diese Schutzmassnahme kann doch nicht falsch sein

    • H
      Hans
      @Tantris:

      Und wer machts?

  • NS
    Na sowas

    "„Vorverlagerung“ heißt das im Jargon."

    Ja ist dem Autor abwarten und ersaufen lassen lieber?

     

    "Weigerung der europäischen Innenminister, die rigide Abschottungspolitik gegenüber den Flüchtlingen auch nur ein wenig aufzuweichen"

    Wir haben ein Asylgesetz. Es gab ein Schiffsunglück im Mittelmeer. Gestern ist mein Fahrrad umgefallen. Was hat das alles miteinander zu tun?

  • D
    D.J.

    Wenn mich jemand bäte, Gesinnungsethik zu erklären, würde ich derzeit als Beispiel jene wählen, die angesichts der Ereignisse von Lambedusa etwas mehr laissez-faire fordern, was irreguläre Einwanderung betrifft. Freilich wissen (jedenfalls die bei normalem Verstand), dass dies nichts ändern würde, sondern im Gegenteil zu noch mehr maroden Booten auf dem Mittelmeer führen würde. Darum geht es aber nicht. Es geht um das gute Gefühl, auf der "richtigen" Seite zu stehen. Da sind mir fast die lieber, die hier alle jederzeit regulär aufnehmen möchten, die es möchten. Wäre zwar das Ende des uns bekannten Europa, aber immerhin konsequent.

    Übrigens habe ich keine Lösung. Ich gebe aber mir zumindest Mühe zu erkennen, was keine Lösungen sind.

    • @D.J.:

      "das Ende des uns bekannten Europa"... auch eine schöne Umschreibung dafür, dass nichts ist für die Ewigkeit.

      Bis zum Ende des letzten Jahrhunderts wurden in Europa Grenzen aufgebaut, aber bereits seit über 50 Jahren geht die Entwicklung ganz klar in Richtung 'Grenzen, bye bye!'. Diesen politischen Prozess für eine menschlichere Zukunft kann das Mittelmeer nicht aufhalten.