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Kommentar FDPIn den Ruinen des Neoliberalismus

Kommentar von Christian Semler

Westerwelles Tiraden gegen die Arbeitslosen widerspricht nicht nur den Tatsachen, sondern auch der Gefühlslage der Bevölkerungsmehrheit. Selbst die eigene Klientel ist polarisiert.

Guido Westerwelle als auferstandener Jörg Haider? Das wird nicht klappen, trotz der Anstrengungen des Vizekanzlers, als rechter Populist Karriere zu machen. Westerwelles Versuch, die Steuerzahler gegen die Arbeitslosen aufzuwiegeln und zu suggerieren, der Sozialstaat verspreche dem Volk "anstrengungslosen Wohlstand", widerspricht nicht nur den Tatsachen, sondern auch der Gefühlslage der Mehrheit der Bundesbürger. Das Schreckensjahr 2008 hat übereinstimmenden Umfragen zufolge die Zahl derjenigen, die einen starken, intervenierenden Wohlfahrtsstaat fordern, in die Höhe schnellen lassen. Mehr als drei Viertel der Befragten sehen die Einkommens- und Vermögensverteilung als ungerecht an. Weshalb sich der Zorn der Befragten gegen betuchte Steuerhinterzieher richtet und nicht gegen angebliche Hängematten-Arbeitslose.

Erfolgreicher rechter Populismus muss sich heute, statt auf den Arbeitslosen herumzuhacken, der ausländerfeindlichen Agitation bedienen, wenn er Erfolg haben will. Von Haider bis zum Schweizer rechtsradikalen Biedermann Blocher zeigt sich die Popularität antiislamischer und rassistischer Stereotype. Auch für die Bundesrepublik weist die jüngste Erhebung Wilhelm Heitmeyers eine bedrückende Mehrheit ausländerfeindlicher Haltungen selbst bei Befragten aus, die sich als Demokraten ansehen. Vor der Bedienung dieses rechten Populismus schreckt Westerwelle aber (noch?) zurück.

Kann Westerwelles Sturmlauf wenigstens die eigene Klientel zusammenschließen und so für die Wahlen in NRW das Schlimmste verhindern? Was als einigendes Band gedacht war, die Losung "Leistung muss sich wieder lohnen", büßt in den Mittelschichten zunehmend an Attraktivität ein. Denn wo der Markterfolg allein über "Leistung" entscheidet, wo unabhängig von individueller Leistung entlassen oder herabgestuft wird, zersetzt sich das Selbstbewusstsein der Leistungsindividualisten. Statt in dieser Situation der Verunsicherung und Orientierungslosigkeit vorsichtig zu taktieren, polarisiert Westerwelle auch innerhalb seiner eigenen Wählerschaft.

Angesichts solcher Einschätzungen antwortet Westerwelle, ihm komme es nicht auf Popularität an, sondern auf Wahrheit. Ein Hinweis darauf, dass der Doktrinarismus, der sich gegen die realen Verhältnissen abdichtet, heute in den Ruinen des Neoliberalismus nistet.

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7 Kommentare

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  • A
    abc

    Ich habe einen ähnlichen Kommentar bei tagesspiegel.de geschrieben, aber hier passt er auch:

     

    Was ist daran eigentlich verwerflich, wenn jemand nicht in einem Job arbeiten möchte, weil es sich für ihn weder finanziell lohnt noch andere Motive für die Annahme des Jobs sprechen? Er handelt doch in seinem Sinne rational, wie übrigens Unternehmen auch, die sich durch staatliche Subventionen neue Werke weitgehend finanzieren lassen und dann andere Werke mit mehr Mitarbeitern schließen (das berühmteste Beispiel ist wahrscheinlich Müller-Milch).

    Außerdem, selbst nach der Theorie des Marktes ist dies logisch: Ein Markt funktioniert m.E. nur, wenn sich die Akteure auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen - und davon kann man beim heutigen König-Untertan-Verhältnis im Niedriglohnsektor wohl kaum sprechen. Wenn ein Arbeitgeber jedoch keine Arbeitnehmer findet, weil der Job zu unattraktiv ist, muss es ihn attraktiver gestalten - zum Beispiel durch einen höheren Lohn. Wahrscheinlich ist genau das der Grund, dass seitens der Wirtschaft der Druck auf die Politik, den Druck auf Arbeitslose immer weiter zu verschärfen, seit Jahren so hoch ist.

  • A
    andyconstr

    Das die Griechen über ihre Verhältnisse gelebt haben, haben sie selbst eingesehen.HartzIV Emfänger leben aber in der sozialen und gesellschaftlichen Verelendung, keine Bildung, keine Kultur.Plattenbau, Anonymisierung, Verfall der Familien.Das ist keine Dekadenz, das ist handfeste Degeneration, in solchen Umfeldern enstehen emotionale und sexuelle Monster.Durch Gewalt und Machtmissbrauch und geschlechtliche Prägung auf Gleichaltrige.Wer diese "Überflüssigen" drangsalieren will, der sollte aufpassen das er nicht selber überflüssig wird.Denn Geldgier und sexuelle Irrealität der Oberschicht braucht auch kein Mensch.

  • P
    Paul

    @Realistin 900 € netto, das bedeutet, es kommt noch die Renten und Arbeitslosenversicherung dazu. So einfach ist das nicht. Du mußt vom Brutto ausgehen.

  • R
    Realistin

    Es stehen zur Verfügung:

     

    Alg II = Hartz IV von 867 € gegen 900 € netto / bei 40 Std.- Woche.

     

    Preisfrage an Herrn Semler:

    Was würden Sie tun?

     

    Arbeiten?

     

    Sicher nicht!

     

    Westerwelle hat genau das Richtige gesagt. Leider zur falschen Zeit, nämlich viel zu spät!

  • PD
    Populisten / Demagogen

    Guido zeigt doch einfach nur, welch geistes Kind er ist. Über eine besonders lange Tätigkeit in der freien Wirtschaft verfügt er auch nicht, bezieht also auch schon seid Jahren nur Staatsknete.

    Dass vor allem die beiden populistischen Parteien Linkspartei und FDP nur durch primitive Klientelpolitik auffallen, die im Regierungsfall scheitern muss; dass gerade diese beiden Parteien, die mit ihren Konzepten die Volkswirtschaft ruinieren würden, immer wieder die Klappe so weit aufreißen und beide auch keine Probleme haben, den extrem rechten Rand einzufangen, verwundert nicht.

    Dass aber sowohl Linkspartei als auch FDP noch Wähler außerhalb ihrer Klientel finden (Transferleistungsbezieher bzw. Dentisten und Co.) verwundert schon.

  • MJ
    Michael Josef

    Hat Her Semler den Text von Herrn Westerwelle gelesen und verstanden? Oder hat er sich nur auf einzelne Stichworte gestürzt und nur seine maoistisch kommunistische Grundeinstellung zum Besten gegeben?! Einen guten Beitrag les ich gerne, dieser, mit an den Haaren berbeigezogenen Inhalten gehörte nicht dazu!

  • A
    anke

    Ich kenne zwar keine entsprechende Statistik, wenn die Losung "Leistung muss sich wieder lohnen" aber tatsächlich an Attraktivität verlieren würde für die Mittelschichten, würde mich das überhaupt nicht wundern. Eine Mittelschicht, schließlich, der als Lohn für erbrachte Leistungen bereits die Aussicht auf ein Lumpenproletariat genügt, obwohl sie selbst Jahr für Jahr Realeinkommensverluste hinnehmen muss, kann ich mir bei aller Fantasie nicht so recht vorstellen. Noch, hoffe ich, kannt die Mittelschicht trotz Bildungs- und Medienkrise den Unterschied zwischen einem Versprechen und einer Drohung erkennen. Und so desaströs, dass sie schon dankbar sein muss, wenn man ihr letzteres als ersteres verkauft, ist die Lage nun auch wieder nicht.