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Kommentar EU-ArmutsstudieVon Äpfeln und Birnen

Ulrike Herrmann
Kommentar von Ulrike Herrmann

Im europäischen Vergleich zeigt sich, dass Hartz-IV ein Verarmungsprogramm ist.

Bild: taz

Ulrike Herrmann ist Meinungsredakteurin der taz.

Man kann nicht behaupten, dass die wachsende Armut komplett ignoriert würde. Zumindest entstehen immer neue Statistiken, um das Phänomen der sozialen Ausgrenzung zu messen. Selbst europäische Vergleichsdaten existieren inzwischen - und die EU-Kommission spart auch nicht am Aufwand. Für ihr "EU-SILC" werden jährlich 200.000 private Haushalte in 25 Ländern befragt.

Für Deutschland klingt das Ergebnis zunächst beruhigend: 2005 seien hier nur 13 Prozent arm gewesen. Im europäischen Durchschnitt hingegen lag die Quote bei 16 Prozent. Aber was sagt das? Für die Bundesregierung ist die Botschaft klar: Sie hat diesen Abstand von 3 Prozentpunkten genutzt, um ihre eigene Sozialpolitik zu loben. Da zeigt sich die negative Seite des so beliebten "Bench marking", also des Vergleichs mit anderen Ländern: Wenn es woanders schlimmer ist, kann es hier ja nicht mehr schlimm sein.

Zudem weist dieser europäische Vergleich ein sehr aussagekräftiges Detail auf: 2005 waren in Deutschland 43 Prozent aller Arbeitslosen arm - in Euroland waren es hingegen nur 38 Prozent. Hier zeigt sich, dass Hartz-IV ein Verarmungsprogramm ist. In Deutschland mögen zwar relativ wenige Menschen arm sein - dafür trifft es aber die Arbeitslosen umso härter. Und noch ein zweites Detail ist erstaunlich: In Deutschland expandiert zwar der Niedriglohnsektor, aber dies hinterließ bisher im europäischen Vergleich kaum Spuren. Von den Vollzeitarbeitskräften waren in Deutschland nur 4 Prozent arm - im Euroland waren es mit 7 Prozent fast doppelt so viele.

Allerdings hat EU-SILC den gravierenden Nachteil, dass es nur die Einkommens- und nicht die Vermögensverteilung misst. Noch schlimmer: Es sind noch nicht einmal alle Einkunftsarten erfasst, die sich aus dem Vermögen ergeben. So wird bisher nicht die Entlastung für die Haushaltskasse berücksichtigt, wenn man im Eigenheim und nicht zur Miete wohnt. Das soll sich künftig ändern. Der Effekt ist absehbar: Plötzlich wird sich zeigen, dass weit mehr als nur 13 Prozent in Deutschland arm sind. ULRIKE HERRMANN

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Ulrike Herrmann
Wirtschaftsredakteurin
Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).
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