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Kommentar Castor-ProtestMassenhafte Selbstermächtigung

Martin Kaul
Kommentar von Martin Kaul

Politischer Widerstand gegen die inakzeptable Atompolitik vermag nur dann den Verantwortlichen zuzusetzen, wenn er sowohl in die Breite wächst als auch tatsächlich stört.

W ürden Sie sich gern mal richtig vermöbeln lassen? Nein? Dann ist schon diese höchst nachvollziehbare Haltung Grund genug, den gegen den Castortransport Protestierenden im Wendland Respekt zu zollen.

Am Wochenende kamen erstmals 50.000 Menschen aus ganz Deutschland ins Wendland, um friedlich gegen Atomkraft und deren Folgen zu demonstrieren. Etliche tausend von ihnen blockierten mithilfe von Sitzblockaden Schienen und Straßen. Etwa 4.000 Menschen - meist ebenfalls friedlich - nahmen bei vollem Bewusstsein Prügel, Pfefferspray und Tränengas in Kauf, um mit dem Wegräumen des Schotters von den Bahnschienen, dem sogenannten Schottern, zu versuchen, den Castortransport effektiv zu verhindern. Damit ist etwas zurückgekehrt in die Freie Republik Wendland, von dem frühere Kämpfer gern rückblickend schwärmen: Aus Protest ist wieder waschechter Widerstand geworden. Und genau der ist, leider, bitter nötig.

Denn politischer Widerstand gegen die inakzeptable Atompolitik der Bundesregierung vermag nur dann den Verantwortlichen zuzusetzen, wenn er sowohl in die Breite wächst als auch tatsächlich stört. Gewöhnlich gilt ja: Wird eine Bewegung breiter, also bürgerlicher, dann tut sie niemandem mehr weh. Radikalisiert sie sich hingegen, wendet sich die breite Masse ab. Am Wochenende jedoch gelang den AtomkraftgegnerInnen die fruchtbare Verbindung beider Phänomene. So hat sich die Struktur der Protestgemeinde im Vergleich zu den Vorjahren entscheidend verändert: Wer früher mit der Bewegung sympathisierte, aber trotzdem zu Hause blieb, geht heute zur Demo. Wer dort schon mal war, ist jetzt Sitzblockierer. Und aus geübten Blockierern sind nunmehr "Schotterer" geworden, die offen Sabotageakte ankündigen, also mit Gefängnisstrafen und Prügelorgien rechnen müssen.

Bild: taz

Martin Kaul ist einer der taz-Reporter vor Ort.

In dem von Schwarz-Gelb ausgerufenen "Herbst der Entscheidungen" haben sich also zigtausende BürgerInnen zu ihrem ganz individuellen Grenzübertritt entschlossen und damit die eigenen Emanzipationsperspektiven bewusst erweitert. Dem ignoranten Durchsetzen von politisch-wirtschaftlichen Großprojekten setzen sie eine hoffnungsvolle Selbstermächtigung entgegen.

Von diesem Wochenende geht die Botschaft aus: Du kannst vieles, wenn du nur willst. Und du bist viele.

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