Kommentar Bleiberecht: Neue Kälte in Zeiten der Krise
Es ist klar, dass die Bleiberechtsregelung gescheitert ist. Trotzdem ist die große Koalition nicht bereit dazu, diese Regelung zu reformieren.
D ie Bleiberechtsregelung, deren Frist Ende des Jahres ausläuft, sollte ein jahrzehntealtes Problem der hiesigen Flüchtlingspolitik lösen: Was tun mit Flüchtlingen, deren Asylverfahren abgelehnt wird und die aus bestimmten Gründen nicht abgeschoben werden können? Die seit vielen Jahren im Land sind, häufig nicht arbeiten dürfen und von verringerten Hartz-IV-Sätzen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leben müssen? Der Beschluss von Innenministern und Bundesregierung, bei der Verabschiedung von ihnen selbst als Richtungswechsel gefeiert, sollte den Menschen endlich eine Chance auf eine gesicherte Existenz in Deutschland bieten.
Heute aber ist klar: Die Bleiberechtsregelung ist gescheitert. Nur ein kleiner Anteil der 110.000 Betroffenen wird bis zum Stichtag Ende des Jahres die Bedingungen erfüllen können. Das größte Problem für die meisten: die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts.
Dass diese schwierig wird, war bereits bei der Einführung absehbar. Menschen, die zum großen Teil jahrelang nicht arbeiten durften, deren Qualifikationen mangelhaft sind oder hierzulande oftmals nicht anerkannt werden, sollten plötzlich ein Einkommen verdienen, das über dem Hartz-IV-Niveau liegt. Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts erhöhte im vergangenen Jahr die Anforderungen an die Lebensunterhaltssicherung sogar noch. Die Wirtschaftskrise, die bei Einführung der Bleiberechtsregelung in den Jahren 2006/2007 ebenfalls nicht absehbar war, kommt heute erschwerend hinzu.
Das sehen im Wesentlichen alle Experten so. Und doch ist die große Koalition nicht bereit, die Regelung zu reformieren. Denn im September ist Bundestagswahl. Und da wagt es die SPD - allen inhaltlichen Erkenntnissen zum Trotz - nicht, gegen die Union zu stimmen und so als unsicherer Partner dazustehen. Und die Union befürchtet, dass in Zeiten der Wirtschaftskrise Unterstützung für eigentlich ausreisepflichtige Flüchtlinge beim Wahlvolk gar nicht gut ankommt.
Deshalb wird es vor der Bundestagswahl wohl keine Verbesserung der Bleiberechtsregelung geben. Zu hoffen ist, dass danach wieder alle zur Vernunft kommen. Schließlich ist es mehr als sinnvoll, wenn Menschen, die seit vielen Jahren in der Bundesrepublik leben, eine Perspektive für eine dauerhafte Bleibe bekommen. Denn dies ist die Voraussetzung für Integration.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag