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Kommentar BelgienVon der Regierungs- zur Staatskrise

Kommentar von Georgi Verbeeck

Belgien ist seit Monaten ohne Regierung. Weil Flamen und Wallonen sich immer mehr entfremden, droht jetzt eine Staatskrise - und vielleicht der Zerfall Belgiens.

D ie belgischen Parlamentswahlen liegen heute 150 Tage zurück, aber noch immer ist keine neue Nationalregierung in Brüssel in Sicht. Gestern wurde nun klar, dass aus der Regierungskrise eine Staatskrise zu werden droht. Ursache der Krise ist die zunehmende Entfremdung der niederländischsprachigen Flamen in Nordbelgien von den frankophonen Wallonen im Süden des Landes. Trotz seines klaren Wahlsiegs im Juni ist es dem flämischen Christdemokraten und designierter Premierminister Yves Leterme bislang nicht gelungen, mit Christdemokraten und Liberalen aus den beiden Landesteilen ein gemeinsames Regierungsprogramm auf die Beine zu stellen. Leterme hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er wie die meisten Flamen eine stärkere Unabhängigkeit vom belgischen Zentralstaat wünscht.

Es ist ein einmaliges Ereignis in der Geschichte Belgiens, was da zu besichtigen ist. Denn bei den Verhandlungen zur Regierungsbildung wurde ein lebenswichtiger politischer Grundkonsens auf die Probe gestellt. In Belgien war es bisher nicht üblich, dass die größere flämische Sprachgemeinschaft der kleineren frankophonen Gemeinschaft Beschlüsse per Mehrheitsabstimmung aufzwingt. Konflikte zwischen Flamen und Wallonen werden in der Regel mit ausgeklügelten Verfahren und äußerst komplexen Kompromissen bereinigt. Dieser Mechanismus konnte bis jetzt den Zerfall Belgiens verhindern.

Doch hatte sich bisher schon die politische Landschaft des Landes zunehmend in zwei separate politische Kulturen aufgeteilt. Belgien kennt nicht nur eine, sondern zwei Demokratien. Der alte Sprachenstreit hat sich nach 177 Jahren weitgehend territorialisiert. Regionen und Gemeinschaften betrachten sich inzwischen nicht mehr als Teil des Zentralstaats, sondern als fast autonome Partner in diplomatischen Verhandlungen. Der Zusammenhalt des Nationalstaats ist in Gefahr.

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1 Kommentar

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  • F
    fotoralf

    Man sollte zu der Abstimmung im Innenausschuß des belg. Parlaments noch erwähnen, daß die flämischen Grünen sich zwar enthalten, aber nicht wie die frankophonen Parteien den Saal verlassen haben.

     

    Sie sind bewußt sitzen geblieben, denn sonst wäre das Gremium nicht mehr beschlußfähig gewesen. So konnten die übrigen flämischen Parteien den Antrag durchpauken - mit Hlfe der Stimmen der Neofaschisten vom Vlaams Belang!

     

    Das ist der eigentliche Skandal.

     

    Damit ist nicht nur die bisherige Selbstverpflichtung zum Konsens in föderalen Fragen über dan Haufen geworfen worden, sondern - viel schlimmer noch - der "cordon sanitaire" um die Faschisten ohne Not aufgegeben worden.