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Kommentar Ausschreitungen GroßbritannienKönigreich der Ungleichheit

Kommentar von Oliver Nachtwey

David Cameron macht es sich zu einfach mit seiner Verurteilung der "Vandalen und Plünderer". Die aktuellen Krawalle sind Proteste der Angst.

G roßbritannien brennt – und Premier David Cameron spricht von Randalierern, Vandalen und Plünderern, die weder Gesetz noch moralische Grundlagen achten würden. Doch damit macht er es sich zu einfach. Denn vom Himmel gefallen ist diese Gewalt nicht.

Sozialarbeiter auf britischen Straßen haben lange vor der Brisanz in den sozial schwachen Vierteln gewarnt. Und Großbritannien kann auf eine lange Geschichte der Urban Riots zurückblicken. Doch solche Ausschreitungen wie jetzt hat das Land seit den Tagen von Margaret Thatcher (1979-1990) nicht mehr gesehen.

Auch die eiserne Lady wollte die britische Gesellschaft einst von Grund auf reformieren und bediente sich dabei der Salamitaktik. Premier David Cameron hingegen geht aufs Ganze: Mit Einsparungen von 94 Milliarden Euro hat er das größte Kürzungsprogramm der britischen Geschichte verabschiedet - kein Industrieland geht radikaler vor. Im öffentlichen Dienst wird massiv gekürzt, die Studiengebühren wurden verdreifacht, viele Jugendclubs geschlossen. Dabei ist in kaum einem Land der EU der Wohlstand so ungleich verteilt. Auch bei der sozialen Aufwärtsmobilität schneidet das Königreich schlechter ab als alle anderen Industriestaaten.

Bild: privat
OLIVER NACHTWEY

ist Wirtschaftssoziologe an der Uni Trier.

Die "moralischen Grundlagen der Gesellschaft" haben jedoch nicht erst die aktuellen Krawalle beschädigt. Schon der illegale Krieg gegen den Irak hat das Vertrauen in die Politik erschüttert. Und während die Manager wieder Boni kassieren, bleiben die Unterschichten ohne Perspektive. In der Abhöraffäre des Murdoch-Imperiums wurde offenbar, wie stark politische Eliten, Medien und Polizei verbandelt sind. Und die Polizei wird in vielen Stadtvierteln schlicht als Feind betrachtet. Seit 1998 sind in Großbritannien mehr als 300 Menschen in Polizeigewahrsam gestorben - doch nicht ein Polizist wurde dafür bislang verurteilt.

Bei den aktuellen Krawallen handelt es sich um Proteste aus Angst, die keinen sozialen Regeln und Normen folgen. Doch sind hier nicht einfache Kriminelle am Werk - es ist ein Aufstand unterprivilegierter Jugendlicher. Nirgendwo in Europa ist die Konsumgesellschaft ausgeprägter als in England - nirgendwo sind aber auch mehr Menschen davon ausgeschlossen. Die Plünderungen sind Ausdruck eines abnormen Kampfs um Teilhabe in einer Gesellschaft, der die Moral abhandengekommen ist.

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20 Kommentare

 / 
  • 7D
    75% der Jugendeinrichtungen wurden gestrichen

    @Annie

     

    deine entschuldigung für die jugendlichen gewaltausbrüche ist nicht durchdacht.

     

    hätte eine zielführende schlußfolgerung deiner argumentationskette aus der abteilung küchenpsychologie nicht heißen müssen: gewalt hat sich, wenn überhaupt, immer und ausschließlich an ihre verursacher zu richten? die angegriffenen sind aber alles andere als die verantwortlichen für die misere der jungen leute aus der unteresten unterschicht. sie haben, wenn man so will, die falschen büßen lassen.

     

    ja, verständlich ist der zorn der riots, verständlich ist auch ihr unvermögen ihn adäquat auszudrücken, geschweige denn ihn in konstruktive bahnen zu lenken, der spaltung der gesellschaft wird aber durch solch einen diffusen zerstörungswillen noch weiter vorschub geleistet. auf jeden fall werden dabei - und das gilt es sich vor augen zu halten - weitere unschuldige opfer produziert.

  • M
    Moment!

    "Erklärung" ist nicht gleich "Legitimierung". Bitteschön, gern geschehen. Dank an den Autor für seinen Artikel und den Versuch, den Kreis der Betrachtung mal etwas weiter zu ziehen und tiefer zu lagern.

  • DR
    Dr. Raimund Rational

    @Annie:

    Das ist eine ziemlich verkommene Moral, die ich in ihrer unergründlichen Logik nicht so ganz kapiere:

    Warum zum Teufel sollen diese Kriminellen "ihre Angst durch Gewalt an Anderen abreagieren" dürfen??? An Anderen, denen es vielleicht auch nicht besser geht? Sollen die in Flammen aufgehenden Häuser kleiner Ladenbesitzer irgend jemandem nützen?

    Sie schreiben ja: "Sie dürfen alles tun, was anderen nicht schadet." Aber in Ihrem Text ist das ironisch, vielleicht auch zynisch gemeint, d.h. Sie bejahen offenbar das Gegenteil. Und das ist der wirkliche Skandal, dass diese lächerlich simple Regel, nämlich seinen Mitmenschen "nicht zu schaden" offenbar überhaupt nichts mehr gilt.

  • P
    PeterPan

    Bei den Ausführungen des Autors geht es in keiner Weise darum, die Opfer dieser sinnlosen, zynischen und erschreckenden Gewaltexzesse zu verhöhnen oder die nihilistische Zerstörungswut von vollkommen enthemmten, zumeist jungen Menschen aus verschiedenten ehtnische Gemeinschaften Londons zu verharmlosen. Nein!!! Es ist eine Schande, wenn die Läden der Nachbarschaft, das Eigentum anderer, Autos, Fahrräder ja ganze Wohnung aus purer Lust an temporärer "Rechtsfreiheit" zerstört werden und ja, die TäterInnen müssen Konsequenzen für Ihr Handeln erfahren - nur, das reicht nicht!!! Ich kann hier nur an alle Mitmenschen, die den sehr guten Kommentar mißdeuten, dringend appellieren mal darüber nachzudenken, was diese Flut an primitiven Castingshows, in Kombination mit eben jenem erschreckenden Menschenbild, dieser Wahnhafte Konsumismus, der ja schon auf Kleinkinder abzielt mit den Menschen tut. Zusätzlich kommen die extremen Klassenunterschiede der britischen Gesellschaft hinzu, so dass eine furchterregende uns alle aufrüttelnde Saat aufgegangen ist. Es stimmt, die Straftaten müssen geahndet werden und die Opfer unbedingt für erlittenes Leid entschädigt werden aber damit ist es nicht getan! Die Ursachen liegen viel tiefer und der hier so oft angegeriffene Kommentar greift unbequeme Wahrheiten auf und ich fordere alle auf mit dem Nachdenken da anzufangen, wo es einem persönlich am meisten weh tut. Nur so sind wir alle in der Lage, solche schlimmen Dinge in unseren urbanen Zentren langfristig zu verhindern. Den Kommentator als Sozialromantiker zu diffamieren greift zu kurz und wird der Tragweite der Problematik in keiner Weise gerecht. Gerade diejenigen unter meinen KommetarkollegInnen, die im Falle von Sarrazin, Broder und Konsorten im von Denkverboten schwadronnieren sollte sich jetzt mal ernsthaft davon befreien und argumentieren. Auf geht's "KameradInnen", Feuer frei!!!

  • J
    Jansen

    Der in meinen Augen bisher wertvollste Beitrag im sogenannten Kampf um die Deutungshoheit der Proteste!

  • A
    Annie

    @ viele KommentatorInnen:

     

    Nein, die Kids dürfen ihre Angst nicht durch Gewalt an Anderen abreagieren.

     

    Sie dürfen ihre Angst gegen sich selbst wenden, psychosomatisch reagieren, depressiv werden, Pillen schlucken (wie viele Führungskräfte schließlich auch).

    Oder sie dürfen sich für ihre nicht unbegegründete Angst selbst bestrafen, z. B. sich die Arme mit Rasierklingen aufkratzen.

    Sie dürfen sich auch wegdämmen, durch Alkohol, Koks, usw..

    Sie dürfen sich selber töten, weil sie nicht weiterwissen.

     

    Summa sumarum: Sie dürfen alles tun, was anderen nicht schadet.

     

    Und mit dem, was sie sich selber dann antun, steigern sie auch noch das Bruttosozialprodukt (Absatzsteigerungen für Rasierklingenhersteller, Bestatter, Pharmaindustrie, usw.). Dann geht es mit der Wirtschaft wieder aufwärtes ... und die Finanzindustrie kann weiterhin weitermachen wie bisher.

     

    Was will man/ frau/ kind mehr?!

  • DR
    Dr. Raimund Rational

    Angst? Arbeitslos? Wie kann man nur so einen Mist verzapfen...

    Natürlich ist England eine extreme Klassengesellschaft, aber diese Idioten sind ja nicht zu den exilrussischen Milliardären, zu den Adligen Großgrundbesitzern oder zu den Landsitzen der stinkreichen Rockmusiker gezogen. Nein, sie gefielen sich darin, kleine Existenzen in der Nachbarschaft zu vernichten, Menschen im Stadtviertel auszurauben und in Lebensgefahr zu bringen.

    Egal wie: auch wenn es mir noch so schlecht geht, habe ich nicht das Recht, mich so zu verhalten. Wer so was auch noch rechtfertigt, der spinnt! Basta!

  • R
    Richterlich

    Super Logik!

    Sozialromantiker wie Sie, welche für alles eine legitimierende Erklärung haben, machen mir auch Angst.

    Darf ich ihr Haus oder ihre Arbeitsstätte jetzt auch abfackeln? Sie scheinen da ja nichts dagegen zu haben?!

    Ich hab ja schließlich Angst!

  • P
    plasma

    Die wollen nen neuen Plasma-TV!!! Das hat nichts mit Angst oder so zu tun!

  • P
    PeterPan

    Eine treffende Analyse! Vielen Dank dafür!

  • G
    get-real_1983

    Oh cry me a river! Die armen, benachteiligten Jugendlichen, plündern sich durch London, weil sie sich keine £250 Sportschuhe leisten können?

     

    Ich kann dem Autor nur empfehlen mal ein wenig Stimmen von der Insel in seine Weltsicht mit einzubeziehen. BBC 5 Live hören, und den Guardian lesen.

     

    Natürlich gibt es viele Ungerechtigkeiten, dass will ich auch gar nicht beschönigen. Aber: In welchen (a)sozialen Verhältnissen ich mich auch befinde, es gibt mir nicht ansatzweise das Recht, Geschäfte von lokalen Geschäftsleuten zu plündern und zu verwüsten und Wohnhäuser in denen sich Menschen befinden anzuzünden. Ich erinnere auch an die Bilder des Mannes aus Malaysia, der (umgeben von Plünderern) blutend anscheinend Hilfe angeboten bekommt, nur um ihm dann von eben diesen "Helfern" ausgeraubt zu werden.

     

    Hier werden keine großen, kapitalistischen Ketten getroffen. Hier handelt es sich nicht um Protest mit irgendwelchen Forderungen. Es geht um Zerstörung. Es sind kleine, lokale Betriebe in der Nachbarschaft, deren Besitzer jetzt vor einem Scherbenhaufen stehen. Denen ein langer Streit mit ihren Versicherungen bevorsteht. Ein Streit, bei dem der lokale Friseur am Ende vermutlich als Verlierer dasteht, aufgrund irgendwelcher Ausschlußklauseln, die jetzt schnell bei den Haaren herzitiert werden.

     

    Sozial benachteiligt oder nicht, dieses Verhalten ist nicht zu rechtfertigen, und wer bei diesem Mob mitmacht, ist ebendies: Ein Krimineller, jedoch kein "einfacher" — und verdient die entsprechende Strafe.

     

    God day!

  • K
    karakoram

    Amoralisch ist es, eine solche Gesellschaft zu bauen, die den Reichtum Weniger auf den Schultern der Masse generiert. Ekelhaft und zynisch ist es, die Gegenwehr, sei sie auch gewalttätig, abzuqualifizieren, statt sich mit dem Phänomen von Ursache und Wirkung auseinanderzusetzen. Dass die besonders benachteiligte Bevölkerung sich mit Gewalt wehrt, darf in einem Klima, in dem der Skrupelloseste den besten Schnitt amcht, nicht verwundern. Das hat einen Namen: Kapitalismus.

  • PP
    Peter Pan

    Eine sehr gute, treffende Grobanalyse,

     

    vielen Dank dafür!!!

  • H
    Holkan

    Süß. "Hier sind nicht einfach Kriminelle am Werk". Nein, nein, iwo! Plündern, Häuser anzünden, Menschen berauben und töten, das ist doch legitim, wenn man meint, ungerecht behandelt worden zu sein. Denn merke: Wer Respekt einfordert auch wenn er ihn nicht verdient, darf alles, n'est-ce pas?

  • TF
    Thomas Fluhr

    "Großbritannien brennt – und Premier David Cameron spricht von Randalierern, Vandalen und Plünderern, die weder Gesetz noch moralische Grundlagen achten würden." ich dachte schon er meint die Banker - ?

  • H
    harun

    Herrn Nachtweys Analyse der sozioökonomischen Ursachen der gegenwärtigen militanten Unruhen in England ist sehr plausibel: politisch beginnt die gegenwärtige Widerwärtigkeit der englischen Klassengesellschaft mit ihrer immer schlimmeren Verarmung von immer mehr Menschen und obszöner Verreichung Weniger tatsächlich mit Thatcher. Bei ihr findet sich auch schon die im Realkapitalismus endemische Verbindung von Klassenkampf von oben und Kriegsgeilheit. Das setzte sich in England fort über den schlimmen Papstfreund ²Bliar² bis zum üblen Elite-Bubi Cameron. Die randalieren mit der NATO im Irak, Afghanistan und Libyen. ganz anders als die von Polizeitstaatsterror überzogenen, in die Verelendung getriebenen, Wutbürger.

    Bei dem ehrenwerten und respektablen Wirtschaftssoziologen Nachtwey leider unterbelichtet ist die ökonomische Tiefenanalyse der sozioökonomisch gut erfaßten englischen Gesellschaftsspaltung: Welche Entwicklung der Profitraten im angelsächsischen Kaputtalismus forcierten den armen-feindlichen Thatcherismus? Welche Entwicklung der Größe der Mehrwertmasse liegt dem zugrunde? Wissenschaftlich haltbare Antworten finden sich u.a. bei Robert Brenner(The Boom and the Bubble), den deutschen Wertkritikern, Jürgen Neumann(Telepolis).

    So kann der Eindruck entstehen, eine Rückkehr zum vor-thatcherischen Kapitalismus sei möglich. Das aber ist nach den Analysen der gerade genannten Kapitalismus-Analysten mehr als zweifelhaft.

    Es wird angesichts der gar nicht mehr "schöpferischen Zerstörung"(Schumpeter) des negativ-avantgardistischen UK-Kaputtalismus Zeit, wie über Alternativen zur als mörderisch erkannten Atomindustrie so auch über eine bessere Art von Eigentums- und Produktionsverhältnissen nachzudenken(Vorschläge dazu finden z.B. bei Oskar Lafontaine und bei Heinz Dieterich: "Sozialismus im 21. Jahrhundert").

  • A
    Alexander

    Genau.

    Und auch wenn sicher nicht jeder Exzess von Zerstörungswut mit irgendeinem konkreten finanziellen Minus der Familie in direkte ursächliche Beziehung gesetzt werden kann:

    Dass diese Jugendlichen keine Gelegenheit hatten, ihr Herz an ein Hobby wie ein Musikinstrument oder eine Sportart zu verlieren und sich weiterhin leisten können, damit ihre Freizeit zu verbringen, dass dürfte ja noch sehr viel klarer sein.

  • M
    Macka

    Naja, is doch kein Problem, odda? Dafür wurde einer der reichsten Familien dieser Erden die Hochzeit ihres William mit, ich glaube 32 Millionen, von den arbeitenden Briten über die Steuern bezahlt. Ein Wunder, dass es kracht? Ein Wunder, wenn es auch bei uns kracht? Es stinkt in Europa nicht mehr nur zum Himmel.

  • A
    Aha!

    "Bei den aktuellen Krawallen handelt es sich um Proteste aus Angst"

     

    Ich habe auch Angst um meine Zukunft und die meiner Kinder.

     

    Darf ich jetzt das Haus des Autors anzünden und ihn verprügeln?

     

    Nach diesem Artikel bin ich sicher er hätte Verständnis dafür.

     

    Vielleicht sieht die Welt aber auch anders aus, wenn man selbst einmal Opfer solcher Gewalttaten wird.

     

    Wollen wir einen Versuch wagen werter Autor?

  • A
    Antimilitarist

    "Schon der illegale Krieg gegen den Irak"

     

    Bitte nicht den illagelen Krieg in Libyen vergessen!