Kommentar Amokläufe: Amok im Wahlkampf
Wer auf Videoüberwachung setzt und stärkere Polizeipräsenz fordert, ist noch kein Befürworter des autoritären Staats. Notwendig aber ist, noch viel früher hinzuschauen.
D ie Raserei eines bewaffneten Schülers in der Ansbacher Schule, das öffentliche Totschlagen an einer Haltestelle in München-Solln, der Fall eines Mädchens, das jemand in einen Kanalschacht wirft - dass wir entsetzt und voller Abscheu reagieren, spricht dafür, dass in unserer Gesellschaft ein moralisches Sensorium intakt zu sein scheint. Denn wir empfinden mit den Opfern und fühlen uns in ihre Angst und ihre Ohnmacht ein. Auch wenn uns diese Einfühlung nicht nur wütend, sondern selber ängstlich und ohnmächtig machen mag.
Zugleich ahnen wir, was auch die Psychoanalyse und die Sozialpsychologie bestätigen: dass es den Tätern genau darauf ankommt, nämlich Angst zu verbreiten und Macht zu spüren, indem sie körperliche Verfügung gewinnen über andere, die sich nicht wehren können, und wenn sie doch Widerstand leisten, diesen mit aller Gewalt zu brechen, um sich für einen Moment stark zu fühlen.
Gewiss, es sind beschädigte Seelen, die Therapie bräuchten, damit sie sich nicht an Schwächeren schadlos halten. Unsere Intuitionen reichen jedoch weiter. Taten dieser Art, bei denen jede Hemmung zu fehlen scheint, halten wir für symptomatisch. Sie gelten uns als Zeichen dafür, dass in den Tiefenschichten unserer Gesellschaft etwas nicht stimmen kann.
Wenn die Täter, bewusst oder im Unbewussten, in den Kategorien von Macht und Ohnmacht handeln, zeigen sie uns dann nicht die Unterseite einer Konkurrenzgesellschaft, in der nur Gewinner zählen und die Verlierer auf der Strecke bleiben? Denn in den meisten Fällen sind die Totschläger selbst Opfer familiärer Gewalt oder sozialer Diskriminierung. Im Gewaltakt verlassen sie die mentale Verliererposition, was ihnen immerhin mediale Aufmerksamkeit und damit ein Echo bringt.
Was folgt daraus? Wer auf Videoüberwachung setzt und stärkere Polizeipräsenz fordert, ist noch kein Befürworter des autoritären Staats. Er müsste aber wissen, dass das Gesehenwerden zum Motivbündel solcher Gewaltinszenierungen dazugehört. Deshalb sollte eine Gesellschaft früher hinschauen, was sich in ihren Weichteilen tut.
Eine Kultur der Achtsamkeit könnte dafür sorgen, dass der Wettbewerb um ein besseres Leben etwas anderes als nur winner und loser hervorbringt, die beide ohne Hemmungen sind. Und wo wir gerade Wahlkampf haben: Das wäre ein Thema gewesen.
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