Kommentar Afghanistanwahl: Unangenehme Wahrheiten
Die Taliban verlagert ihr Kampfgebiet in den Norden Afghanistans, denn dort sind die schwächsten Truppen stationiert: die Deutschen. Wenn die nicht aufgestockt werden, droht ein Desaster.
A uch wenn die Lage in Afghanistan am Wahltag noch unübersichtlich war, eines lässt sich schon jetzt sagen: Die ohnehin überoptimistische Hoffnung, dass nach den Wahlen alles besser werde, wird sich kaum erfüllen. Die Taliban haben gezeigt, dass sie inzwischen im ganzen Land dazu in der Lage sind, Angst, Schrecken und Tod zu verbreiten, und sie werden sich kaum zur Ruhe setzen, wenn der neue Präsident feststeht.
Vor allem für die Bundeswehr und damit für die deutsche Politik hält der gestrige Tag einige unangenehme Wahrheiten bereit. Die massive Schlacht in Baghlan und die Angriffe in Kundus und Char Dara zeigen, dass Nordafghanistan inzwischen genauso vom Virus des Aufstands infiziert ist wie der Süden des Landes. Was die Taliban dort gezeigt haben, nennen Militärs gewöhnlich eine "show of force". Und es ist kein Zufall, dass sie im Norden stattfindet.
Durch die verstärkte Präsenz der US-Truppen im Süden suchen sich Taliban und al-Qaida ein Ausweichgebiet. Dabei wissen sie sehr genau, dass die Deutschen das schwächste Glied in der Kette sind. Und die derzeitige politische Debatte um den Afghanistan-Einsatz befeuert diesen Eindruck nur.
Wer die Situation in Afghanistan nur ein bisschen kennt, weiß, dass die Diskussion um eine Exitstrategie eine Scheindebatte ist. Es wird im kommenden Jahr nicht darum gehen, festzulegen, wann man die Bundeswehr aus Afghanistan abziehen kann. Im Gegenteil. Die USA haben bereits angefangen - und sie werden das in Zukunft noch mehr - Druck auszuüben, die Truppenzahl zu erhöhen.
Dafür gibt es gute Gründe. Washington gewinnt wenig, wenn es durch mehr eigene Truppen die Lage im Süden besser unter Kontrolle bringt - sie aber gleichzeitig im Norden eskaliert. Wenn die Bundeswehr verhindern will, dass ihr Verantwortungsgebiet in naher Zukunft von Taliban überrannt wird, tut sie deshalb gut daran, ernsthaft über eine Aufstockung der Truppen nachzudenken.
Die Politik muss deshalb endlich jenen billigen Populismus stoppen, der dazu geführt hat, dass der Afghanistan-Einsatz in der Bevölkerung so unbeliebt ist. Die Bundeswehr, die in der Bündnispflicht und in Afghanistan steht, muss personell und materiell dazu in der Lage sein, erfolgreich auf eine neue Sicherheitslage zu reagieren. Andernfalls gefährdet sie auch das Leben deutscher Soldaten.
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