Kommentar Afghanistan: Karsai sucht Allianz mit Taliban
Entweder es gibt in Zukunft in Afghanistan eine Taliban-Regierung oder eine Regierung aus Taliban, Hekmatjar und Karsai an der Spitze. Letzteres hat der Präsident im Auge.
Afghanistans Präsident Hamid Karsai ist offenbar wild entschlossen, endlich der zu werden, der er ist. Nicht Washingtons Mann am Hindukusch und auch nicht die Schaufensterpuppe von Modedesigner Tom Ford, sondern der Präsident aller Afghanen. Dieser Schritt ist so logisch, dass er im Westen jeden überrascht hat - obwohl sich Karsais Strategie seit Langem andeutete. Hier glaubt man gern, dass die Geldgeber immer am Drücker sitzen, und übersieht, dass in Afghanistan im Zweifel die Ehre wichtiger ist als die Liquidität.
Mit einem mehr oder weniger klaren Abzugsdatum der ausländischen Truppen im Nacken und einer Großen Ratsversammlung (Loja Dschirga) vor sich, bei der er auf Druck seiner Verbündeten die Taliban und Islamisten wie den berüchtigten Warlord Gulbuddin Hekmatjar ins Boot holen soll, bleibt Karsai gar nichts anderes übrig, als seine Machtbasis in Afghanistan zu suchen. Denn niemand hat je ernsthaft geglaubt, dass sich in wenigen Jahren die afghanische Nationalarmee (ANA) zu einer Truppe aufbauen lässt, die auch ohne ausländische Unterstützung verhindern könnte, dass in Afghanistan wieder ein Bürgerkrieg ausbricht.
Wo sonst sollte Karsai nach Unterstützung suchen als unter den Vertretern seiner eigenen Volksgruppe, der Paschtunen, die der Präsenz ausländischer Truppen mehrheitlich schon seit Langem feindlich gegenüberstehen? Es ist kein Zufall, dass Karsai seine an ein innenpolitisches Publikum gerichtete Rede ausgerechnet in Kandahar gehalten hat - der Hochburg der Taliban. Als Marionette der USA zu gelten ist in diesem auf Ehre bedachten Volk der sicherste Weg, in Zukunft keine politische Rolle mehr zu spielen. Zustimmung ist ihm daher sicher.
Leider hat die nachlässige Organisation der Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr, bei denen die internationalen Gemeinschaft es Karsai sehenden Auges erlaubte, das Ergebnis massiv zu manipulieren, auch das Tischtuch zwischen dem paschtunischen Präsidenten und seinem tadschikischen Herausforderer Abdullah Abdullah zerschnitten. Eine "Regierung der nationalen Einheit" unter Einschluss der kleineren Volksgruppen ist inzwischen unvorstellbar. Für den Frieden im Land sind das denkbar schlechte Voraussetzungen.
Jetzt rächt sich, dass Washington Karsai schon vor den Präsidentschaftswahlen mit Korruptionsvorwürfen demontiert hat - ohne je eine realistische Alternative zu ihm präsentieren zu können. Karsai hat nichts mehr zu verlieren, und daher geht jede Drohung gegen ihn ins Leere. Entweder es gibt in Zukunft eine Taliban-Regierung oder eine Regierung aus Taliban, Hekmatjar und Karsai an der Spitze. Letzteres hat der Präsident im Auge. Was beides für Demokratie und die Rechte der Menschen - vor allem der Frauen - bedeutet, kann man sich denken.
Nicht dass sich die internationale Gemeinschaft im vergangenen Jahr noch für diese Fragen interessiert hätte - die sie doch einst als Rechfertigung für den Krieg am Hindukusch galt. Doch im Namen der Menschen, die dafür in den vergangenen Jahren gekämpft haben, muss daran erinnert werden. Das Team um US-Präsident Barack Obama hatte auf einen "ehrenhaften Abzug" aus Afghanistan gehofft. Aber der ist nur möglich, wenn man auch ein bisschen von dem einlöst, was man versprochen hat. Nun scheint Karsai entschlossen, ihm in die Suppe zu spucken.
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