Kolumne Zeitschleife: Balkon vorm Sommer
Ja, es wirkt: Bei Trennungsschmerz und Umzugsqualen hilft mithin radikales Aalen.
V on Leuten, die damit mutmaßlich schmerzhafte Erfahrung gemacht haben, kennt man den weisen Rat an Pärchen, sich nicht - so es denn überhaupt sein muss - ausgerechnet im Herbst zu trennen, im Angesicht des herannahenden Winters mit seinen dunkelkalten Nächten, in denen man doch um Himmels willen nicht allein sein wolle. Ich hab jetzt auch einen weisen Rat. Endlich mal. Hier: Wenn es denn unbedingt sein muss, dass Sie aus einer Wohnung mit Südbalkon in eine Wohnung ohne jeglichen, also: ohne auch nur einen irgendwie gearteten Anflug von Balkon umziehen, dann tun Sie das doch nicht ausgerechnet im Frühling, im Angesicht des herannahenden Sommers, wenn die Sonne gerade damit anfängt, ganze Tage lang durchzupumpen, die man, so schon nicht auf Wiesen liegend, doch zumindest auf Balkons sitzend zubringen sollte. Sonst könnte es passieren, dass Sie sich in den Arsch beißen, und das ist zuallererst auch mal eine schmerzhafte Erfahrung. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich tue es gerade. Das mit dem Umzug. Und das mit dem Arschbiss, rein metaphorisch.
Josef Winkler (35) lebt und arbeitet, was sein Nervenkostüm und Zeitbudget nicht unerheblich in Anspruch nimmt, in München und Palling. Hobbies: Zeichnen, Tiere, Musik, Nichtschwimmen.
Berechtigt ist freilich die Frage: Wie oft und wie ausgiebig habt ihr euch denn in der Sonne geaalt in all den langen Sommern mit dem Südbalkon? In der Tat: Nicht so oft und wohl nicht annähernd ausgiebig genug. Auf jeden Fall nie so radikal wie heute, an unserem letzten Sonnensonntagnachmittag auf beinahe schon nicht mehr unserem Balkon. Wir haben uns bewusst gegen den Biergarten entschieden. Der Biergarten ist morgen auch noch da. Ja, der Balkon auch, aber in den Biergarten lassen sie uns dann noch rein, ohne dass wir eine peinliche Szene machen müssen. Seit ein Uhr Mittags sitzen wir jetzt hier, wild entschlossen und mittlerweile durchaus leicht angeschickert, und schauen den Elstern und Krähen zu, die um die Lufthoheit im Hinterhof kämpfen. Oder blödeln die? Wir führen zum ersten Mal einen Zwei-an-zwei-Plausch mit unseren Nachbarn von gegenüber. Waren wir in neun Jahren tatsächlich nie alle vier gleichzeitig auf unseren Balkons? Und sieh mal: Die aus dem ersten Stock, die man immer nur einzeln beim Rauchen auf ihrem Balkon sieht, sind tatsächlich doch zwei. Und sie sind ein Paar. Jedenfalls sind sie gerade im Hof zusammen aus einem Auto gestiegen. Hm. Andrea löffelt eine Kiwi. "Woher will man das eigentlich wissen, dass Obst gesund ist?", fragt sie versonnen. Darüber wollen wir nachdenken.
Wenn die Sonne da so frei am Himmel klebt, vermittelt sie ein angenehmes Gefühl von Noch-Zeit-Haben. Wenn man sagt: Ich tu erst wieder einen Handgriff, wenn die Sonne hinter dem Dach da vorne verschwunden ist, das ist wie eine Verabredung mit der Ewigkeit, denn: Haben Sie schon mal die Sonne sich bewegen gesehen? Eben. So lange man auf der Wacht ist und in der Sonne sitzt und sie im Augenwinkel behält, dauert so ein Nachmittag potenziell unendlich an. Man darf sich nur nicht ablenken lassen von Sachfremdem wie Einnicken oder Lesen oder Aufs-Klo-Gehen oder Mal-eben-in-der-Küche-einen-Kaffee-Machen, denn wenn man dann das nächste Mal zur Sonne raufschaut, ist das Luder weitergezogen und klebt plötzlich merklich tiefer über dem Dach.
Irgendwann ist es dann passiert, unter tausend kleinen Unaufmerksamkeiten hat sich die Sonne bis an die Dächerkante herangeschlichen und scheint sich jetzt ernsthaft abseilen zu wollen. Ich stehe an der Ecke des Balkons im letzten Sonnenlichtkeil und schmiege mich - auch das hab ich noch nie getan in all den Jahren, warum nur? - an einen der Balkonpfeiler aus Stahl, und der ist ganz warm und es riecht gut und kleine Sommersonntagspätnachmittagsgeräusche klingen herauf, Kinder quieken in der Ferne, die Elstern klappern und hinter mir hat Andrea die Stereoanlage eingeschaltet, und ebenso unerwarteter- wie perfekterweise fängt Scott Walker an zu singen. "Scott 4". Die ist zufällig im Player, die Hülle ist längst in den Tiefen einer Umzugskiste verstaut und abtransportiert. Rüber, zwei Straßen weiter, in eine Wohnung ohne wirklich auch nur den Hauch eines Ansatzes von Balkon.
Fragen zum Balkon? kolumne@taz.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag