Kolumne Zeitschleife: Keine planmäßige Abfahrt
Die Deutsche Bahn ist zu Dienstleistungen fähig, da reicht unser Gehirn nicht mal für.
D er Zug soll um 18.50 ab Berlin Hauptbahnhof gehen. Der Kollege schlägt vor: Fahr doch ab Südkreuz, da geht der nach München sieben Minuten später - günstig. Ich bin idiotischerweise trotzdem 30 Minuten vor "planmäßiger Abfahrt" am Südkreuz. Dann steht da: "ICE 1517 ca. 25 Minuten später". Und es ist saukalt. Es gibt hier keine Einstellmöglichkeit. Es gibt kein Café, keinen Wärmeraum, keine Shops, Südkreuz ist ein besserer S-Bahnhof mit Volldurchzug. Es ist eiskalt. Kurz vor Ablauf der 30 + 25 Minuten wird auf "ca. 40 Minuten später" erhöht. Der Bahnsteig ist überfüllt. Man friert.
Ein Nachtzug nach Budapest via Dresden hält an unserem Gleis, der unsagbar verlockend gemütlich aussieht für uns am Bahnsteig. Hinter Glas kuschelige Abteile mit warmem Licht und Polstersitzen, auf denen Menschen in Pullundern Bücher lesen. Ein paar von uns haben das Glück, dass sie nach Budapest dürfen oder nach Dresden müssen, selig schlüpfen sie in den Zug. Die meisten bleiben zurück.
In der Zwischenzeit, unbemerkt, ist die Verspätung auf 60 Minuten erhöht worden. Wir bemerken es jetzt. Ich nibbel halb ab. Ich denke mir eine Art autogenes Training aus, um die Frostschmerzen in meinen Gliedern, in Zehen und Fingern nicht mehr zu beachten. Das haut null hin. Dann kommt die Durchsage, dass die Wartezeit nun "80 bis 90 Minuten beträgt". Leute stöhnen. Ich fahre die Rolltreppe hoch und ziehe mir im Windschatten des Zeitungskiosks einen zweiten Pullover und dickere Socken an. Riesengetue. Dann kaufe ich eine Wurst. Wurst essend rolle ich zum Bahnsteig. Da steht der Zug! Schon alle eingestiegen! Beinah hätte ich ihn verpasst.
Josef Winkler (35) lebt und arbeitet, was sein Nervenkostüm und Zeitbudget nicht unerheblich in Anspruch nimmt, in München und Palling. Hobbies: Zeichnen, Tiere, Musik, Nichtschwimmen.
Freie Sitze ohne Reservierungskennzeichnung! Wunderbar. Kaum hat man sich breit gemacht, leuchtet an allen Sitzen die Anzeige "Ggf. freigeben" auf, die nichts besagt, außer: "Du hast hier keine Ruhe, weil jeden Moment an jeder der kommenden Haltestellen in den nächsten sechs Stunden jemand kommen kann, der hier ,gegebenenfalls' reserviert hat"; der Erste kommt jetzt gleich. Eine Durchsage. "Wir bitten um Entschuldigung für die Verspätung. Der Grund ist die verzögerte Bereitstellung des Zuges." Heißt: "Sorry für die Verspätung. Der Grund ist eine Verspätung." Heißt: "Lecken Sie uns mal."
Hinter uns geht die Gleittür zum Vorraum auf und zu, weil so ein Mario-Barth-alike seit einer Viertelstunde nicht nur so laut am Handy krakeelt, als müsse es die halbe Welt interessieren, was er so an Schnoddrigkeiten und Lebensphilosophie mitzuteilen hat, sondern dabei auch noch ständig durch die Lichtschranke latscht. "Ihr Frauen", blökt er hochgestochen, "ihr seid zu Dingen fähig … (und nun sucht er nach etwas, das dramatisch klingt, aber auch lustig - so Barth-mäßig halt, weil ja der ganze Zug zuhört) … da reicht unser Gehirn nich mal für!" Ja, speak for yourself, dude.
Wieder eine Durchsage des Zugführers, der seine ganze thüringische Gemütsamkeit in betont launig-zurückgelehnte Durchsagen legt - man hört ihn schnaufen und raunzen vor lauter Gemütsamkeit, man möchte durch den Zug gehen, ihn suchen in seinem Kabuff und ihm seine Gemütsamkeit, nun, ausreden. "Meinen Sie, wir kommen noch an?", fragt eine Frau bang den Schaffner. "Doch, ich möchte noch im Dunkeln ankommen", sagt der. Als ob irgendwas oder -wer sich hier noch danach richten würde, was der Herr Schaffner möchte. Der Typ im Sitz vor mir ist offenbar Chirurg, er hat seinen Laptop aufgeklappt und schaut Gore-Bilder von schlimmen Handverletzungen an. Ich kann nicht mehr. Es sind noch viereinhalb Stunden bis München.
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